1. Westwanderungen des Zentrums: Zwei Schritte vorwärts, ein Schritt zurück

Das Berliner Zentrum ist wesentlich ein Produkt der Kaiserzeit, der Transformation der historischen Stadt in ein historisches Zentrum vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Zentrum lediglich modifiziert, nicht aber umgewälzt. Revolutioniert wurde seine Struktur erst nach der Spaltung der Stadt, die der weitgehenden baulichen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg folgte. Diese Revolution war eine künstliche, politische, Ausdruck der Teilung Berlins, nicht Ausdruck eines städtebaulichen Entwicklungsprozesses. Nach der Überwindung der Spaltung stellt sich die Frage wieder neu: Wo ist das Zentrum von Berlin, und wie ist es strukturiert?

1.1. Die Herausbildung des Zentrums in der Kaiserzeit

Nachdem Berlin im Gefolge des "gewonnenen" deutsch-französischen Krieges 1871 zur deutschen Hauptstadt proklamiert wurde, schien der preußischen Residenzstadt eine große Zukunft bevorzustehen. Berlin, so meinte schon 1870 Ernst Bruch, der bedeutendste Berliner Stadtplaner der frühen Kaiserzeit nach August Orth, "ist dazu berufen, soweit es überhaupt die deutsche Art zuläßt, der Zentralisations- und Krystallisationspunkt des deutschen Wesens zu werden, was Paris in hervorragenderer Weise, als es hier möglich scheint, für Frankreich geworden ist." (S. 20) Tatsächlich erlebte die neue Reichshauptstadt nicht nur eine gewaltige Ausdehnung der bebauten Flächen, sondern auch einen "Tertiärisierungsschub": eine bis dahin lediglich in London bekannte Transformation einer historischen Stadt in eine moderne Großstadtcity mit Büro-, Waren und Kaufhäusern, Hotels, Banken usw. Träger dieser Entwicklung waren vor allem private Investoren, aber auch Einrichtungen des Deutschen Reiches, Preußens und der Stadt Berlin.

Willy Lesser fixierte in seiner klassischen Studie "Die baulichen und wirtschaftlichen Grundlagen der Geschäftsstadt Berlin" (1915) folgende "Geschäftsplätze", deren Verbindungslinien die Geschäftsstraßen darstellten und die zugleich die Grenzpunkte der Geschäftsstadt markierten: Alexanderplatz, Belle-Alliance-Platz, Leipziger Platz und - als vierten "Platz" - den Bahnhof Friedrichstraße (S. 25). "Die Geschäftsstadt Berlin ist ein ungefähres Fünfeck, das mit seinem Inhalt von 450 ha mehr als 1/15 des Stadtgebietes von Berlin (6.300 ha) ausmacht." (S. 26)

Innerhalb der Geschäftsstadt waren "bestimmte Interessensphären" (S. 28) zu unterscheiden, so das Regierungs- und Gesandtschaftsviertel, das Hotelviertel, das eigentliche Geschäftsviertel, das Bankenviertel, das Viertel der Lebens- und Feuerversicherungen, das Konfektionsviertel, das neuere Viertel der Büro- und Geschäftshäuser mit dem Ausläufer des Zeitungsviertels.

Deutlich wird bei dieser Aufzählung, daß die "Geschäftsstadt" sich in erster Linie innerhalb der barocken Stadterweiterung entfaltet hatte, im Rahmen des Gittergrundrisses der Dorotheen- /Friedrichstadt. Ganz anders war die Situation in der Altstadt: "Östlich des Schlosses kann man schwer Geschäftsviertel bestimmten Charakters unterscheiden. Da sich hier das älteste Berlin befindet, sind die ursprünglichen Gelände klein und die Straßen eng, wodurch moderne Geschäftsgründungen erheblich erschwert werden." (Lesser 1915, S. 30) Abseits der traditionellen Hauptstraße der Altstadt (der Königstraße) dominierten enge, krumme Gassen mit niedrigen Gebäuden auf schmalen Parzellen, in denen eher arme Bürger wohnten und arbeiteten. Diese Gassen wurden seit der Kaiserzeit als "rückständig" und nicht modern verteufelt.

Wie in vielen anderen Städten war daher auch in Berlin die barocke "Neustadt" aufgrund ihres flexiblen, kleinteiligen und leistungsfähigen Straßengrundrisses Ausgangspunkt der Citybildung, während die vorbarocke "Altstadt" in Teilen zu einem vernachlässigten Problemgebiet herabsank.

Die Widersprüchlichkeit des städtischen Zentrums ließ sich auch am Spektrum der städtischen Bodenwerte ablesen. So unterschied etwa die 1905 erschienene "Große Spezial-Karte zur Berechnung des Grund- u. Bodenwertes in Berlin, Innere Stadt", die als "Ratgeber für Bauunternehmer, Hypothekenbanken, Kapitalisten, Spekulanten und Grundbesitzer bei Kauf, Verkauf und Beleihung der Grundstücke" dienen sollte, insgesamt 25 Preiskategorien. Die höchste Preiskategorie war nur im Westen, dem besseren Teilzentrum, zu verzeichnen, und zwar an einigen Partien der Straße Unter den Linden, der Friedrichstraße und der Leipziger Straße. Diese drei Straßenabschnitte bildeten das charakteristische H-förmige Rückgrat der Berliner City. An den genannten Straßen waren auch die meisten Grundstücke der zweithöchsten Preiskategorie zu finden, die im östlichen, zweitklassigen Zentrum nur bei einem kurzen Trakt der Königstraße, der Hauptstraße von Alt-Berlin, vermerkt war. Im östlichen Teilzentrum war das Preisgefüge insgesamt bei weitem zerklüfteter, widersprüchlicher, als im westlichen Teilzentrum. So waren dort Grundstücke von der 2. bis hin zur 19. Preiskategorie zu finden. Die relativ niedrigen Bodenwerte insbesondere an den schmalen, alten Gassen bedeuteten natürlich nicht, daß sich dort keine Geschäfte mehr machen ließen. Unterlassene Instandhaltung und Überbelegung mit ärmeren Mietern vergoldeten auch dieses Eigentum - ein Hindernis für jeden Zentrumsumbau.

Etwas großräumiger betrachtet müssen daher zwei Bereiche des Zentrums unterschieden werden, denen eine jeweils dominante, spezifische Entwicklung zuzuschreiben ist: erstens die eigentliche, im Kern auf das Mittelalter zurückgehende Altstadt mit den beiden historischen Städten Berlin und Cölln (zur Altstadt wurden in der Regel auch der Friedrichswerder und Neucölln am Wasser gerechnet), und zweitens die regelmäßigen, durch ein rechtwinkliges Straßensystem gekennzeichneten barocken Erweiterungen Berlins in Richtung Westen und Südwesten, die seit 1673 angelegte Dorotheenstadt und die seit 1688 angelegte Friedrichstadt. Oder mit anderen Worten: Zu unterscheiden ist zwischen historischer Altstadt und historischer Neustadt, zwischen östlichem und westlichem Teilzentrum bzw. zwischen Altstadt und City. Zusammengehalten werden beide Teilzentren vor allem durch einen großen Ost-West-Hauptstraßenzug: Die "Hauptader, welche der ungeheuren Maschine Leben und Richtung verleiht", ist "die Linie vom Alexanderplatz nach dem Potsdamer Platz" (Lesser 1915, S. 58).

Hermann Schmidt, ein Theoretiker der Citybildung vor dem Ersten Weltkrieg, beschrieb 1909 die Entwicklung der beiden Teilzentren folgendermaßen: "Sind die beiden Citys örtlich getrennt und ohne besonders rege Verbindung, so haben sie auch ihren eigenen Charakter: Schon äusserlich hat Alt-Berlin mehr historisches Gepräge in seinen krummen Strassenzügen und noch vielen alten Häusern bewahrt. Es ist heute noch ein Mittelpunkt, wenn auch nicht mehr der Hauptmittelpunkt, es ist vor allem der Sitz des Grosshandels; das Strassenbild ist minder elegant. Wir finden hier das Rathaus und (andere) städtische Behörden, Gerichte, die Polizei, die Hauptpost, die Zentralmarkthallen und etwas abseits auch die Börse. Die Friedrichstadt mit ihren geraden Strassenzügen macht dagegen einen modernen Eindruck. Sie ist heute der eigentliche Mittelpunkt von Berlin in mehrfacher Beziehung. Hier finden wir verschiedene Bildungsinstitute, vor allem die Universität und die königlichen Theater, mehrere Museen, dann hauptsächlich alle Banken, die ersten Hotels, die elegantesten Läden und Warenhäuser, die grössten Bierpaläste und feinsten Cafés und wohl zu allen Stunden den stärksten Strassenverkehr." (S. 51)

Die Kehrseite der Tertiärisierung, der sogenannte Bevölkerungsabfluß aus dem Zentrum, galt als ein Indikator der Citybildung. Je größer der Abfluß, desto fortgeschrittener war die Citybildung, und desto stolzer waren die Fachleute. Unterschieden wurden zwei Perioden, die Zeit von 1871 bis 1890 und die Zeit nach 1890. In der ersten Periode ging die Zahl der "Nachtbevölkerung" nur im eigentlichen Zentrum zurück, nach 1890 im gesamten, sehr viel größeren, durch die ehemaligen Zollmauern umfaßten weiteren zentralen Bereich (vgl. Zimm 1959, S. 78). Berücksichtigt werden muß dabei allerdings, daß sich noch 1871 die Bevölkerung des Groß-Berliner Raums anteilmäßig weitgehend in den engen Stadtgrenzen Berlins konzentrierte. Das Einwohnerverhältnis zwischen der Stadt Berlin und den inneren Vororten betrug damals noch etwa 17:1 und sank dann bis 1900 auf etwa 3:1 (vgl. Schmidt 1909, S. 41).

Nicht nur der Neubau der insgesamt hochwertigeren Mietskasernenwohnungen förderte den "Abfluß" aus den völlig überbelegten Gebieten des historischen Berlin, sondern auch der zunehmende Verkehr. "Man kann [...] wohl den Satz aussprechen, dass der Verkehr die Bewohner vertreibt: Direkt, indem er mehr und mehr Raum beansprucht und indirekt, indem seine Nebenwirkungen, Staub, Lärm und Unruhe das Wohnen allmählich unmöglich machen. Wer irgendwie kann, der meidet heute die belebtesten Stadtteile und zieht in ruhigere Viertel; zudem sind die neueren Wohnungen, welche weiter draussen errichtet werden, auch gewöhnlich mit mehr Bequemlichkeiten ausgestattet." (Schmidt 1909, S. 9f.)

Doch all diese Aussagen über den Bevölkerungsabfluß sind relativ belanglos, wenn nicht berücksichtigt wird, daß die Zahlen lediglich Bilanzen ausdrücken - Bilanzen, in denen kleinräumlich unterschiedliche Entwicklungen glattgebügelt wurden, Bilanzen, in denen die Veränderungen der Sozialstruktur der Bevölkerung nicht sichtbar wurden. Der Bevölkerungsabfluß erfaßte - wie der Tertiärisierungsprozeß - nicht alle Zonen der Teilzentren gleichmäßig, und er führte vor allem im östlichen Teilzentrum zu einer relativen Zunahme der ärmeren Schichten, er führte zu einer Herausbildung ethnischer Ghettos (wie etwa der sogenannten jüdischen Schweiz im Scheunenviertel) und der Entwicklung von Zonen der Halb- und Unterwelt, der sogenannten Schandflecke der Großstadt.

Anschaulich - wenn auch etwas zynisch - beschrieb der große Theoretiker des Städte- und Wohnungsbaus, Rudolf Eberstadt, diesen Prozeß: "Das Zentrum unserer Städte galt bis in unsere Zeit als der beste Wohnbezirk; neuerdings dagegen wird die Innenstadt gerade von den wohlhabenden Ständen verlassen und die Außenbezirke werden als Wohngegenden bevorzugt." (Eberstadt 1910, S. 289) In die freiwerdenden, oft nicht mehr instandgehaltenen Wohnungen drängten mehr und mehr ärmere Schichten, die auf die relativ billigen Mieten der "unternormalen Wohnungen" angewiesen waren. "Es sind zwei Kategorien von Mietern, die hierbei in Frage kommen: zunächst diejenigen Familien und Einzelmieter, die eine höhere Miete nicht erschwingen können und deshalb in den unterwertigen Wohnungen Unterkunft suchen müssen; ferner aber - ein besonders bedauerlicher, jedoch häufig festzustellender Umstand - solche Familien, die wegen Kinderreichtums in den besseren Mietshäusern keine Aufnahme finden." (S. 292) Dazu kamen als besondere Bevölkerungsgruppen die aus dem Ausland zugewanderten Arbeiter mit angeblich "niedrigen Ansprüchen und schlechten Wohnsitten" sowie der "Bodensatz der Bevölkerung, die sittlich verkommenen Personen" (S. 291f.). Diese nicht direkt von der Tertiärisierung, sondern indirekt von den Folgen der Tertiärisierung gezeichneten Zonen waren die typischen Verfallszonen, die den Ruf nach Altstadterneuerung in sozialer, hygienischer und sittlicher Hinsicht laut werden ließen.

Stimmen zur Verteidigung der Altstadt waren dagegen eher selten. Berühmt ist die Schilderung Wilhelm Raabes in seiner "Chronik der Sperlingsgasse": "Ich liebe in großen Städten diese ältern Stadttheile mit ihren engen, krummen, dunkeln Gassen, in welche der Sonnenschein nur verstohlen hineinzublicken wagt; ich liebe sie mit ihren Giebelhäusern und wundersamen Dachtraufen, mit ihren alten Karthaunen und Feldschlangen, welche man als Prellsteine an die Ecken gesetzt hat. Ich liebe diesen Mittelpunkt einer vergangenen Zeit, um welchen sich ein neues Leben in liniengraden, parademäßig aufmarschirten Straßen und Plätzen angesetzt hat, und nie kann ich um die Ecke meiner Sperlingsgasse biegen, ohne den alten Geschützlauf mit der Jahreszahl 1589, der dort lehnt, liebkosend mit der Hand zu berühren. Selbst die Bewohner des ältern Stadttheils scheinen noch ein originelleres, sonderbareres Völkchen zu sein, als die Leute der modernen Viertel. Hier in diesen winkligen Gassen wohnt das Volk des Leichtsinns dicht neben dem der Arbeit und des Ernsts, und der zusammengedrängtere Verkehr reibt die Menschen in tolleren, ergötzlicheren Scenen an einander, als in den vornehmeren, aber auch öderen Straßen." (1902, S. 17)

Die Tertiärisierung erfaßte also nur kleine, begrenzte Zonen der historischen Stadt. "Nur ein Bruchteil der Innenstadt wird selbst in unseren bedeutendsten Großstädten zur reinen Geschäftsstadt umgewandelt, in der eine an Zahl geringe Wohnbevölkerung zurückbleibt. Unmittelbar aber an die reinen Geschäftsbezirke und Geschäftsstraßen schließen sich dichtbevölkerte, engbewohnte innerstädtische Bezirke an, eng besiedelte Quartiere mit einer Bevölkerung der verschiedensten Bestandteile, von dem Werkstattarbeiter, von dem Heimarbeiter, dem Gelegenheitsarbeiter bis herab zu den schlechtesten und bedauernswertesten Volksteilen der Großstadt. Überall ist der Stadtkern von Bezirken und Zonen minderwertiger Gebäude umgeben, und gerade der hochwertigste, bestbezahlte Boden ist durchsetzt von unterwertigen Bezirken; überall schließt sich unmittelbar an die hochwertige Geschäftsstadt - als steter Begleiter - die unternormale Wohnung." (Eberstadt 1910, S. 288)

In gewisser Weise war die stolze Rede von der umfassenden Citybildung selbst in Berlin eine Legende. Sie traf nur auf die nördliche Friedrichstadt mit der Dorotheenstadt zu, nicht aber auf die Altstadt. Das durch Reiseführer, Postkarten, Fotobände usw. unablässig genährte Bild einer strahlenden Weltstadtcity ist einer der großen Mythen der Berliner Stadtgeschichte. Die Zonen im Schatten des Glanzes und Glimmers wurden verdrängt. Fotografiert bzw. abgebildet und damit die öffentliche Wahrnehmung prägend wurden nur wenige Punkte dieser Dunkelzonen, so etwa der Krögel, dessen Sanierung bereits vor dem Ersten Weltkrieg geplant, aber erst in der nationalsozialistischen Zeit realisiert wurde. Die herrschende Öffentlichkeit schämte sich dieser Dunkelzonen. Und die Architekten und Planer nutzten diese Scham zur Requirierung von öffentlichen Verschönerungsprojekten, die den Parvenu Berlin in der Konkurrenz zu den ehrwürdigen europäischen Hauptstädten Wien, Paris und London prachtvoller glänzen lassen sollten.

Citybildung war somit kein Prozeß der Schaffung homogener, äquivalenter Standorte, sondern im Gegenteil - ein Prozeß der schroffen Differenzierung. Citybildung hieß: Zersetzung der Strukturen der alten Stadt, die zwar auch differenziert, aber funktional aufeinander bezogen waren. Im Prozeß der Citybildung verloren die einzelnen Zonen der historischen Stadt ihren Zusammenhang, sie entwickelten sich mehr und mehr zusammenhangslos nebeneinander. Citybildung implizierte die Modifizierung der überkommenen bürgerlichen Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden in Richtung eines differenzierten Eigentümerspektrums, sie implizierte - allerdings nur an wenigen Stellen - die Umwälzung der Parzellenstrukturen in Richtung insulärer Parzellenzusammenlegung, die Umwälzung der überkommenen Gebäudetypen und ihrer Traufhöhen, die Auflösung kleingewerblicher Produktions- und Lebeweisen. Die Transformation der historischen Stadt in ein historisches Zentrum hatte trotz weitgehender Kontinuität der materiellen Elemente der Stadt die vorindustrielle Stadt vollständig revolutioniert. Die Armenviertel der Altstadt waren keine Gebiete, wo alles so geblieben ist, wie es einmal gewesen war. Sie waren nicht zurückgeblieben, sondern voll auf der Höhe der Zeit und brachten die schroffen gesellschaftlichen Differenzierungen der Kaiserzeit räumlich zum Ausdruck.

Der Prozeß der Zentrumsentwicklung ließ im westlichen Bereich gehobenere, durch Kommandofunktionen in Staat und Wirtschaft gezeichnete Zonen entstehen, im östlichen Bereich dagegen weniger feine, durch Einrichtungen des Massenkonsums, des Großhandels, der spezialisierten Fertigung und durch städtische Institutionen geprägte Teilzonen. Diese oft etwas vereinfacht als "Westwanderung der City" bezeichnete Entwicklung war für den spezifischen Charakter des Umbaus des Zentrums von Berlin bis heute von herausragender Bedeutung. Sie verweist bereits auf den großräumigen Standort von potentiellen Stadterneuerungsgebieten, auf das östliche Zentrum.

Was waren nun die Hintergründe dieser ungleichen Entwicklung?

Hermann Schmidt erinnerte zunächst an die unterschiedliche "Nachbarschaft, das Hinterland gewissermassen", das für die Citybildung von Bedeutung war: "Alt-Berlin öffnet sich unvermittelt den dichtbevölkerten Arbeiterquartieren im N und O, die Friedrichstadt dagegen weist nach dem reichen Westen; im Süden und Südosten ist eine breite 'schützende' Zone vorgelagert, welche einen allmählichen Übergang in die Industrieviertel der Luisenstadt und in die südlichen Vorstädte darstellt." (S. 51)

Die widersprüchliche Zentrumsentwicklung korrespondierte weiter und vor allem mit der Entwicklung des modernen Massenverkehrs, dessen Fixpunkte bereits vor der Reichsgründung mit der Anlage der Eisenbahnen geschaffen worden waren. Der Potsdamer und der Anhalter Bahnhof bildeten entscheidende Gravitationspunkte für die Entwicklung der City. "Alle wichtigen Bahnlinien", so Schmidt 1909, "münden in nächster Nähe der Friedrichstadt [...]" (S. 51f.) Die bedeutendste Anlage des städtischen Massenverkehrs nach 1871 war die 1882 eröffnete Stadtbahn. Die Stadtbahn stellte eine neue Verbindung zwischen dem historischen Zentrum und dem neuen, reichen Westen her und markierte mit dem Bahnhof Friedrichstraße einen weiteren Gravitationspunkt. Sie ermöglichte darüber hinaus überhaupt erst die zweitklassige Zentrumsbildung in der Altstadt.

"Die Wiedergeburt Alt-Berlins", so etwas pathetisch die Verfasser der 1896 erschienenen Publikation "Berlin und seine Eisenbahnen", "ist der Stadtbahn zu danken. Indem sie einen großen Verkehr mitten in die lange vernachlässigten Stadtgebiete hineintrug, schnitt sie auch rücksichtslos in ihre baulichen Verhältnisse ein. Durch die Zuschüttung des Königsgrabens wurden sowohl dem strahlenförmig von Alt-Berlin ausgehenden als auch dem sich in westöstlicher Richtung darüber hinwegziehenden Verkehr neue Wege eröffnet. Der moralische Einfluss der Stadtbahn aber bestand darin, dass sie auf den städtischen Unternehmungsgeist, soweit er auf die Wiedergeburt Alt-Berlins sein Augenmerk richtete, durch ihr grosses Beispiel belebend und ermuthigend einwirkte." (Berlin und Eisenbahnen 1896, S. 78f.)

Für die Privilegierung des westlichen Teilzentrums war in erster Linie die Lage des Bahnhofs Friedrichstraße, des Anhalter und Potsdamer Bahnhofs von Bedeutung. "Diese günstige Lage der Hauptbahnhöfe, welche die Friedrichstadt vor Alt-Berlin auf dem rechten Spreeufer voraus hat, ist jedenfalls eines der wichtigsten Momente gewesen für die Entwicklung dieses Stadtteils zum ersten Geschäftsviertel." (Schmidt 1909, S. 52) Die Lage der Bahnhöfe war natürlich selbst Folge viel älterer Standortgunst, etwa der hochherrschaftlichen Achse Berlin-Potsdam.

Das westliche Teilzentrum war beides zugleich: historische Neustadt und ein bahnhofsvermittelter Entwicklungsbereich. Die Anlage des Bahnhofes nämlich stimulierte die Herausbildung einer neuartigen Entwicklungsachse, die am Platz vor dem Bahnhof begann, dem Umschlagplatz des modernen Massenverkehrs, und die in das alte Zentrum oder andere wichtige Zonen der inneren Stadt führte. Diese Entwicklungsachse, in vielen Städten auch direkt "Bahnhofstraße" genannt, muß als bedeutendster Ansatzpunkt für die Citybildung betrachtet werden, als Ort umfassender baulicher Erneuerung zugunsten größerer Gebäude mit neuer Nutzung auf manchmal zusammengelegten Parzellen. Vorbild der Neustrukturierung der Stadt durch "Bahnhofstraßen" war der Stadtumbau von Paris unter Georges-Eugène Haussmann.

Auch in Berlin gab es eine solche "Bahnhofstraße": die Leipziger Straße, die den Potsdamer Platz, also den Bahnhofsvorplatz, über den Spittelmarkt mit der Altstadt verband. Die Leipziger Straße war die Bahnhofstraße Berlins par excellence. Schon 1838, kurz nach der Eröffnung der Linie Berlin-Leipzig, hieß es in einem Zeitungsbericht: "Gehen Sie die Leipziger Straße entlang, die zur Eisenbahn führt, man kennt sie nicht wieder, ein Hin- und Rückstrom von Fußgängern, Droschken, Kutschen und anderen Fuhren; die festen, massiven Häuser dröhnen unter der fortwährenden Erschütterung, und Bewohner, welche vordem hier eine stille, schöne Straße, mit den Vorzügen von naher Landschaft und Grün der Bäume und des Feldes gesucht, möchten wieder tiefer in die Stadt hinein, um die verlorene Ruhe zu suchen" (zit. nach Schivelbusch 1981, S. 159f.). In der Kaiserzeit wurde die Leipziger Straße zur belebtesten Geschäftsstraße Berlins, "die sich durch prächtige Läden mit geschmacksvollen Auslagen in den Schaufenstern auszeichnet. Ein starker Verkehr herrscht in der Straße auch des Abends bei der taghellen Beleuchtung durch elektisches Licht. Die Straße war die erste Berlins, die 1886 die elektrische Beleuchtung durch 36 Bogenlampen erhielt." (Janke o. J., S. 33f.) Aber auch die Friedrichstraße war als "Bahnhofstraße" anzusehen. Die Kreuzung Friedrich- /Leipziger Straße wurde daher nicht ganz zu Unrecht von manchen Zeitgenossen als zentraler Punkt des Zentrums begriffen.

Doch die Suche nach zentralen Punkten lief in der Dorotheen-/Friedrichstadt ins Leere. Das westliche Teilzentrum war auch historische Neustadt. Im Falle der Dorotheen-/Friedrichstadt hieß das zunächst: vornehme, privilegierte Neustadt im Gegensatz zur weniger feinen Altstadt. Städtebaulich äußerte sich diese Polarisierung vor allem in der Struktur der Straßen. Im Gegensatz zu den engen und krummen mittelalterlichen Altstadtgassen waren es die neuen Straßen der regelmäßigen barocken Stadterweiterungen, die das Gesicht des "modernen" Berlin prägten: vor allem eine für damalige Verhältnisse verschwenderisch breite Straße, die prachtvolle, von repräsentativen Gebäuden flankierte und auf das Stadtschloß orientierte Straße Unter den Linden sowie die längste Straße der historischen Stadt überhaupt, die gerade, aber nicht sehr breite Friedrichstraße, die die Mitte des nach römischem Vorbild gestalteten städtebaulichen Dreizacks der erweiterten Friedrichstadt darstellte.

Die Blockstruktur der barocken Neustädte demonstrierte die Möglichkeiten des Gittergrundrisses, einer nicht mehr eindeutig hierarchisierten Straßenstruktur. Denn anders als zumeist die mittelalterliche Stadt hat die barocke Stadterweiterung in der Regel keinen zentralen Punkt: Der Marktplatz oder der Hauptplatz, die Piazza Maggiore, fand im Gittergrundriß keine Entsprechung. Städtebaulich anspruchsvolle Plätze lagen eher am Rande der barocken Stadterweiterung, im Übergang von Stadt und Land, im Bereich der Stadttore.

Rudolf Eberstadt betonte die Flexibilität dieses "Schemas", das er "Schachbrett" nannte: "Die Blöcke der Friedrichstadt haben eine Frontlänge von 120-150 m und eine Tiefe von 75 m. [...] Die innere Einteilung des Blocks hat sich im Laufe der Zeit vollständig umgestaltet. Eine Anzahl der ursprünglich kleinen Parzellen ist zu größeren Geschäftshäusern zusammengelegt worden, insbesondere an den Eckgrundstücken. Der zu einem hochwertigen Geschäftsviertel gewordene Boden ist im Blockinnern eng überbaut worden." (1910, S. 62) Eberstadt verwies auf die "bescheidenen Abmessungen" der Baublöcke, die - anders als diejenigen der Baublöcke des Hobrechtplans - noch "ohne jede nachteilige Wirkung" waren (S. 63).

Der Gittergrundriß eignete sich offensichtlich in ganz hervorragender Weise für die Entwicklung einer komplexen, differenzierten City. Das zeigt auch die Entwicklung anderer europäischer Großstädte wie etwa Glasgow und Rom, insbesondere aber die Entwicklung der nordamerikanischen Großstädte. Der Gittergrundriß entsprach - im Gegensatz zum Straßennetz der mittelalterlichen Städte - den Erfordernissen des modernen Massenverkehrs, und die kleinen Blöcke ließen sich ganz ausgezeichnet für tertiäre Zwecke nutzen, ja sie ermöglichten eine ganz außerordentliche Flexibilität in der Nutzungsverdichtung: nach innen wie in die Höhe. Daß sich bei einem Gittergrundriß eher schlecht als recht ein zentraler Punkt ausmachen läßt, war und ist ein Vorteil und kein Nachteil. Der zentralste Bereich ist damit flexibler: Ein Netz mehrerer Hauptstraßen mit unterschiedlicher Nutzung und Bedeutung bildet das komplexe Zentrum. Es gibt nicht nur einen erstklassigen Standort, zu dem alle drängen, sondern viele erstklassige Standorte. Hervorzuheben ist aber noch eine weitere Besonderheit des gesamten Berliner Zentrums: Beide Teilzentren waren untereinander und mit den anschließenden Stadterweiterungsgebieten nur sehr unzureichend verkehrsinfrastrukturell verknüpft. Denn die in der Kaiserzeit heiß diskutierten Verkehrsprobleme waren nicht so sehr Ausdruck eines flächendeckenden Massenverkehrs, sondern eher die Folge der seit Jahrzehnten bekannten "Mängel" des historischen Straßensystems - der unzureichenden Verbindungen zwischen der Dorotheen-/Friedrichstadt und der Altstadt sowie zwischen dem aufstrebenden Südwesten der Stadt und der Friedrichstadt.

Getrennt wurden die beiden zusammen nur etwa 4 Quadratkilometer umfassenden Bereiche des historischen Zentrums ursprünglich durch die Befestigungsanlagen Memhardts aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, deren Charakter als städtebauliche Barriere auch nach deren Beseitigung fortwirkte. Die noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts nur durch wenige Brücken gequerte Spree mit ihren beiden das historische Cölln einschließenden Armen fungierte faktisch als Barriere zwischen Dorotheen-/Friedrichstadt und Alt-Berlin.

Zwischen Friedrichstadt und südwestlicher Stadterweiterung bildete insbesondere der Potsdamer Platz eine Engstelle. "Der Potsdamer Platz war das Nadelöhr, durch das sich der gesamte Verkehr zwischen alter City und Zooviertel ebenso hindurchzwängte wie ein Teil des Verkehrs von der City nach Schöneberg." (Hoffmann-Axthelm/Scarpa 1987, S. 73) Die vielgerühmte weltstädtische Bedeutung des Potsdamer Platzes als Ort des Massenverkehrs war nichts anderes als die positiv gewendete zentrale Schwachstelle des Berliner Stadtgrundrisses.

Überlieferter Stadtgrundriß, Nähe zu den wichtigsten Bahnhöfen sowie der Charakter der angrenzenden Wohnviertel führten zu einer strukturell unterschiedlichen Entwicklung des westlichen und östlichen Teilzentrums. Diese Entwicklung hatte ihren historischen Vorlauf: die Privilegierung der Dorotheen-/Friedrichstadt spätestens nach der eindeutigen Westorientierung des Berliner Stadtschlosses in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit öffnete sich die Schere zwischen aufsteigendem Westen und zurückbleibendem Osten.

Vor diesem Hintergrund zielten die Zentrumsplanungen in der Kaiserzeit auf die vereinheitlichende Transformation der historischen Stadt in ein modernes Zentrum der Warenzirkulation und Herrschaftsausübung, das andere Funktionen und Schichten ausgrenzen sollte. "Es ist falsch", so Professor Blum aus Hannover 1912 in einem Vortrag zu Problemen von Groß-Berlin, "wenn wir davon ausgehen, die City für jegliche Arbeit zu bestimmen. Wir müssen vielmehr dahinstreben, in die City nur hineinzulassen, was unbedingt in sie hineingehört, und wir müssen sogar dahin streben, den inneren Kern der Stadt nur zu belegen mit Tätigkeiten, bei denen die Ärmsten der Armen überhaupt ausgeschaltet sind, eigentlich nur Tätigkeiten verwaltungstechnischer und kaufmännischer Natur im weitesten Sinne des Wortes, alles andere gehört in die Außengebiete." (Blum 1912, S. 77)

Umgesetzt wurden diese strategischen Zielsetzungen in den großen Plänen für das Berliner Zentrum zu Beginn und gegen Ende der Kaiserzeit.

Bereits um 1871 präsentierten Ernst Bruch und August Orth ihre Pläne zur umfassenden Modernisierung der Altstadt. Beide plädierten für großzügige Straßendurchbrüche, beide äußerten sich auch zum Berliner Bahnhofssystem. Während Bruch für einen Zentralbahnhof auf dem zentralen Gelände der Artillerie-Kaserne am Kupfergraben in Verbindung mit "einer unterirdischen zentralen Gürtelbahn für Personen und Güter" votierte (1870, S. 92), sprach sich Orth 1871 für ein dezentraleres System aus. In einer Denkschrift definierte er die "Berliner Centralbahn" als "eine grosse Centralstation", die - um ihre Zwecke zu erfüllen - "möglichst innig" mit der damals neuen Ringbahn verbunden werden sollte, "damit alle Stationen derselben ihre Passagiere direct nach der inneren Stadt einführen können und umgekehrt." (Orth 1875, S. 3) Damit hatte der bis heute dauernde Streit um das der Stadt Berlin angemessene Bahnhofssystem bereits ein beachtliches Niveau erreicht.

Von den umfassenden Plänen der frühen Kaiserzeit wurde lediglich einer realisiert: der seit den siebziger Jahren geschmiedete Plan für den Durchbruch der Kaiser-Wilhelm-Straße. Ein erstes Projekt dieser Art legte August Orth vor. Die neue Kaiser-Wilhelm-Straße zielte auf eine verkehrsmäßige Entlastung der Hauptstraße des östlichen Teilzentrums, der Königstraße. Die Realisierung des Durchbruchs wurde durch den Bau von Anlagen des schienengebundenen Massenverkehrs, nämlich der Stadtbahn auf dem zugeschütteten Königsgraben, begleitet. Letztlich zielte der Straßendurchbruch auf eine Umkehrung des Trends zur ungleichgewichtigen Entwicklung der beiden Teilzentren, also auf eine Aufwertung des östlichen Teilzentrums, ja auf eine Expansion der City in Richtung Osten.

Gemessen an diesen Zielen war der Durchbruch ein gescheitertes Unternehmen. Der erwünschte Tertiärisierungsschub blieb aus. Bessere Läden, so der Chronist des Straßendurchbruchs, Otto Schilling, fanden sich in der neuen Straße nur selten, "nur im Innern von Alt-Berlin wurden neue Geschäftshäuser errichtet, die vorwiegend dem Großhandel in Konfektionswaren dienen, der hier seinen Sitz hat. Im übrigen ist die Kaiser-Wilhelm-Straße die Straße, in der sich die Altwarenhändler niedergelassen haben und wo mit Partiewaren und Resten gehandelt wird. So hat die Kaiser-Wilhelm-Straße noch nicht den Lokalverkehr einer 'Prachtstraße' erhalten, als die sie gedacht war, und auch der Durchgangsverkehr ist [...] nicht von erheblicher Bedeutung." (Schilling 1921, S. 260) Der Versuch, mit der Anlage der Kaiser-Wilhelm-Straße gegen den Trend eine Cityerweiterung nach Osten einzuleiten, mußte angesichts der besseren, mit letztlich doch bescheidenen öffentlichen Mitteln nicht kompensierbaren Lagequalitäten im Westen scheitern. Die unterschiedliche Struktur der beiden Zentren blieb erhalten.

Die umfassendsten Planungen für die Entwicklung des Berliner Zentrums wurden im Rahmen des städtebaulichen Wettbewerbs "Groß-Berlin" erarbeitet und 1910 auf der ersten Berliner Städtebauausstellung der Öffentlichkeit präsentiert. Dieser Wettbewerb war gegen Ende 1905 von der "Vereinigung Berliner Architekten" ins Auge gefaßt, in den folgenden Jahren dann zusammen mit dem Architektenverein zu Berlin vorbereitet und schließlich 1908 - als eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (vgl. Konter 1995, S. 251) - von den Stadtgemeinden Berlin, Charlottenburg und anderen ausgeschrieben worden. Hintergrund des im März 1910 entschiedenen Wettbewerbs war - wie schon um 1871 - die Klage über den Widerspruch zwischen der "großartigen Entwicklung der Reichshauptstadt" und der unbefriedigenden städtebaulichen Form dieser Entwicklung. Dazu kam der Glaube an einen weiteren gewaltigen Wachstumsschub. So wurden für die dreißiger Jahre 6 Mio. Einwohner erwartet. "Sind wir vorbereitet auf dieses Wachstum? [...] die Antwort muß lauten: Nein!" (Vereinigung Berliner Architekten ... 1907, S. 8)

Angesichts dieser Wachstumseuphorie war es nicht weiter verwunderlich, daß insbesondere das historische Zentrum als qualitativ und quantitativ unzureichend betrachtet wurde. Der Wettbewerb zielte daher auf eine "Forcierung der Tertiärisierung der Innenstadt und ihre 'künstlerische' bzw. 'monumentale' Hervorhebung als geistig-kultureller, staatsadministrativer und politischer Mittelpunkt des Reiches" (Konter 1995, S. 252).

Die Ergebnisse des "internationalen" Wettbewerbs eher ernüchternd. Sämtliche ausgezeichneten Teilnehmer kamen aus Berlin und Umgegung, und ihre Vorschläge zur Modernisierung des Zentrums gingen prinzipiell in die gleiche Richtung. Die von Hermann Jansen und anderen Preisträgern angeregten zahlreichen Straßendurchbrüche und -erweiterungen wurden im Zentrum am dichtesten, sie sollten mit der besseren Erreichbarkeit das extensive wie intensive Wachstum der City fördern. Zugleich wurde eine erhebliche Erweiterung des Zentrums vor allem in Richtung Westen vorgeschlagen. Dabei spielte die zentralistische Neuordnung der Berliner Bahnhofsstruktur eine Schlüsselrolle. "Im Unterschied zu Jansen befaßten sich die übrigen preisgekrönten Arbeiten sehr intensiv mit durchgreifenden Veränderungen und Umgestaltungen der innerstädtischen Bahnanlagen, die im wesentlichen von zwei Zielsetzungen geprägt waren: wesentliche Steigerung der Leistungsfähigkeit und möglichst geringer Flächenverbrauch. Allen gemeinsam war der Versuch, eine Nord-Süd-Verbindung zwischen der Potsdamer-Anhalter und der Hamburg-Lehrter bzw. Stettiner Bahn herzustellen." (Konter 1995, S. 258)

Auch die Berliner Traufhöhe war Gegenstand der Debatte um den Wettbewerb. "Für die City", so Brinckmann, "wird sehr berechtigt eine höhere, als die jetzt polizeilich erlaubte Bebauung verlangt von 8 oder 9 Geschossen." (1910, S. 9) Forderungen in Richtung Hochzonung wurden insbesondere von Havestadt & Contag erhoben, die im Berliner Zentrum die Zulassung von bis zu 30 m hohen Geschäftshäusern mit 7 bis 8 Geschossen empfahlen. Damit war der Poker um die Durchbrechung der baupolizeilichen Traufhöhe eröffnet. Realisiert wurde von den großen Plänen der Städtebauausstellung für das Berliner Zentrum nichts.

Wenn man den Kontext und die Verfasser der "großen" Pläne von August Orth bis Hermann Jansen betrachtet, so waren diese Planwerke faktisch unbedeutend. Sie waren Produkte einzelner Privatfachleute, die letztlich ohne öffentlichen Auftrag in Zeiten der Auftragsflaute mit diesen Plänen um öffentliche Aufträge warben. Sie waren zweifellos großartige Dokumente der jungen Disziplin Städtebau mit einer kulturellen Wirkung über die Entstehungszeit hinaus, sie waren aber weitgehend irrelevant für den realen Massenstädtebau dieser Zeit. Und selbst als Dokumente der Disziplin waren sie mengenmäßig mehr als dürftig: In den bedeutendsten Wachstumsjahrzehnten der Geschichte Berlins marschierte in der historischen Stadt der private, kleinteilige Stadtumbau; rationalisierende Pläne mit gesamtstädtischer Perspektive aber wurden kaum erarbeitet. Für große Pläne war kein Bedarf, existierte kein Auftraggeber, das Geschäft wurde mit isolierten Einzelprojekten gemacht. Der Umbau der historischen Stadt vollzog sich so ohne rationalen Plan, ohne umfassende Cityvision, im Flickenteppich pulverisierender Einzelmaßnahmen - und daher mit dem Effekt der Zuspitzung der angelegten Widersprüche.

Planerisch waren für die Umgestaltung keinerlei Voraussetzungen vorhanden. Der Bebauungsplan für Berlin und Charlottenburg von James Hobrecht aus dem Jahr 1862 hatte die Anpassung der Straßen der inneren Stadt an das städtische Wachstum ausgeklammert. Diese Vorgehensweise wurde schon 1870 von Ernst Bruch, dem Kritiker des Hobrecht-Plans, beanstandet. Mit der Erweiterung Berlins, so sein Argument, müsse die "Fürsorge für die nöthigen Verkehrserleichterungen in dem alten, bereits bebauten Theil der Stadt [...] Hand in Hand oder noch richtiger ihr voran gehen. Hiervon ist nun in Berlin absolut gar nicht die Rede gewesen. Nicht allein, dass der Bebaungsplan den Kern der Stadt völlig unberührt lässt, so hat man auch in der Praxis jeden, seither schon nothwendig gewordenen Strassendurchbruch und jede Strassenverbreiterung - wenn man sich nicht gar prinzipiell gegen derartige Verbesserungen verschloss - lediglich für sich betrachtet und niemals daran gedacht, dass sie sich dem Bedürfnisse des Ganzen systematisch ein- und unterordnen müssen. Ein solches regelloses Flickwerk bringt die Gefahr nahe, dass die vorhandenen Uebelstände möglicherweise noch verschlimmert werden." (S. 84)

1.2. Große Pläne für ein radikal modernisiertes Zentrum in der Zwischenkriegszeit

Mit dem "Ausbruch" des Ersten Weltkrieges wanderten die Pläne zum Umbau des Berliner Zentrums in die Schubladen. Nach den politisch und ökonomisch schwierigen Nachkriegsjahren rückte - anknüpfend an Planungen der Vorkriegszeit - das Thema der Entzerrung des Verkehrs wieder in den Vordergrund der planerischen Zentrumsdiskussion. So empfahl etwa Ernst Giese in seiner 1925 veröffentlichten Schrift eine ganze Reihe neuer Straßendurchbrüche, die insbesondere den öffentlichen Nahverkehr entballen sollten.

Wie in der Kaiserzeit bildete der schienengebundene öffentliche Nahverkehr auch in der Weimarer Republik die Grundlage des Massenverkehrs. Vor allem der Straßenbahnverkehr wird oft unterschätzt: "In Berlin bewältigt die Straßenbahn den größten Teil des öffentlichen Verkehrs. Im Jahre 1928 wurden [...] auf einer Streckenlänge von 635 km 900 Mill. Fahrgäste befördert. Das ist die halbe Leistung sämtlicher Berliner Nahverkehrsmittel (Straßenbahn, Omnibus, Hoch- und Untergrundbahn, Stadt- und Ringbahn)." (Möbus 1929, S.

Selbst der legendäre Ort des großstädtischen Massenverkehrs, der Potsdamer Platz, wurde wesentlich durch den Verkehr der Straßenbahnen und Omnibusse geprägt. Außerhalb der wenigen Hauptverkehrsstraßen spielte das Automobil auch in den späten zwanziger Jahren eine Außenseiterrolle. Die durch eine einseitige Fotoauswahl immer wieder reproduzierte Suggestion von Berlin als einer "Autostadt" - Zeichen angeblicher Weltstadtbedeutung - war ein realitätsferner Mythos. "Die Berliner Presse", so machte sich Kurt Tucholsky (unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel) 1926 in der "Weltbühne" über diesen Mythos lustig, "ist dabei, dem Berliner eine neue fixe Idee einzutrommeln: den Verkehr. Die Polizei unterstützt sie darin aufs trefflichste. Es ist geradezu lächerlich, was zur Zeit in dieser Stadt aufgestellt wird, um den Verkehr zu organisieren, statistisch zu erfassen, zu schildern, zu regeln, abzuleiten, zuzuleiten... Ist er denn so groß? Nein. Kommst du nach Berlin, so fragen dich viele Leute mit fast flehendem Gesichtsausdruck: 'Nicht wahr, der Berliner Verkehr ist doch kolossal?' Nun, ich habe gefunden, daß er an seinen Brennpunkten etwa dem Verkehr einer mittlern Pariser Straße abends um 6 Uhr entspricht - und das ist ein rechtes Mittelmaß, aber nicht mehr. Und gegenüber diesem kindlichen Getobe muß ich sagen, daß ich eine Geisteshaltung nicht begreife, der die Quantität eines Verkehrs imponiert. An der Place d'Opéra stehen zu manchen Tagesstunden sechs Reihen Automobile nebeneinander - nun, und? Hebt das Paris? Wird Paris dadurch wertvoller? Das beweist doch nichts weiter, als daß man beim Bau der Pariser Innenstadt an einen solchen Verkehr noch nicht gedacht hat; beweist, daß die Konzentration von Bureauviertel[n] und aufeinandergehäuften Hausbewohnern etwas Ungesundes ist, eine wahrscheinlich nie zu lösende Schwierigkeit, die wohl einmal zur Dezentralisation großer Städte führen kann - alles Mögliche beweist diese sechsfache Reihe der Automobile, nur nichts Angenehmes. [...] Nun hat Berlin diesen Verkehr nicht, bildet sich aber ein, ihn zu haben, und die Polizei regelt diesen imaginären Verkehr so, wie nie ein Mensch in Paris geregelt hat noch regeln würde." (S. 739)

Dennoch oder auch gerade deshalb wurden in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre die öffentlichen Vorleistungen für das private Massenautomobil zumindest auf planerischer Ebene forciert. Die Straße wurde als Rahmen nicht mehr nur für Straßenbahnen und Omnibusse, sondern zunehmend auch für den privaten Autoverkehr gesehen. Das autogerechte Zentrum gewann in diesen Jahren erste konzeptionelle Konturen. Nicht die absoluten Zahlen, sondern die Zuwachsraten der Berliner Kraftfahrzeuge beflügelten die Phantasie der Planer (vgl. auch Stimmann 1986, S. 138ff.). Mit dem Amtsantritt von Martin Wagner als Stadtrat für Hochbau und von Ernst Reuter als Verkehrsstadtrat Mitte der zwanziger Jahre läßt sich diese langsame, aber folgenschwere Wende relativ genau zeitlich fixieren. Nun wurde Amerika Vorbild und Traumbild. New York und andere US-amerikanische Großstädte, nicht mehr Paris und London, wurden zum Wallfahrtsort für Stadtplaner, so 1929 auch für Martin Wagner und Ernst Reuter.

Martin Wagner faßte im Vorwort zu seinem Buch "Städtebauliche Probleme in amerikanischen Städten und ihre Rückwirkung auf den deutschen Städtebau" seine USA-Erfahrungen folgendermaßen zusammen: "Gegen die Entwicklung des Automobils als Massenverkehrsmittel werden wir uns vergeblich auflehnen. Die Loslösung von räumlicher und zeitlicher Gebundenheit liegt im Wesen des modernen Menschen. Die Konzentration der Millionen von Großstädtern auf dem engen Raum der Arbeit und des Wohnens drängt nach einer Expansion, nach Befreiung von der Gebundenheit. Und diese individuelle Befreiung hin zu dem flachen Land, zur freien Natur, zur körperlichen Regeneration kann nur das Auto schaffen. Amerika ist das klassische Land der Großstädte. Die Großstädter haben sich dort die individuelle Befreiung von Ort und Zeit durch das Auto geschaffen. [...] Der deutsche Städtebauer muß aber mit Angst und Sorge erfüllt werden, wenn er diesen Siegeszug des Autos auch durch seine Städte gehen sieht. Auf ein derartiges Aufflammen des Verkehrs sind sie nicht eingerichtet. Sie müssen umkonstruiert werden. [...] Berlin ist auf dem besten Wege, in die amerikanische Verkehrsrevolution hineinzuwachsen." (1929b, S. 5)

Damit gewann der klassische Straßendurchbruch bzw. die Straßenerweiterung gerade im Zentrum eine zusätzliche Bedeutung. Der preußische Minister für Volkswohlfahrt, Heinrich Hirtsiefer, sprach in diesem Zusammenhang von "Verkehrselend". "Durch die schnelle und starke Entwicklung des Automobilverkehrs ist die Um- und Ausgestaltung unseres Straßennetzes eins der brennendsten Probleme der Gegenwart geworden." (Hirtsiefer 1929, S. 452) Die verkehrsbegünstigende Umgestaltung des Straßensystems sollte die Citybildung beschleunigen: "Je mehr der Verkehr gesteigert wird, desto stärker wird das Geschäftsleben befruchtet. Je früher Berlin an diese Aufgaben herangeht, desto leichter und billiger wird die Lösung sein. Man darf nicht vor einem Niederreißen und Zerstören zurückschrecken, mag auch das Bestehende gefühlsmäßig wertvoll sein." (Bürgermeister Gustav Böß 1929, S. 119) Das Plädoyer für den Abriß zugunsten des Straßenverkehrs fand bei Martin Wagner einen pathetischen Höhepunkt: "Die Furcht und die Ehrfurcht vor dem Alten macht uns schwach, lähmt und tötet. [...] Ein Volk, das nicht baut, lebt nicht, das stirbt. Deutschland und Berlin wollen und müssen leben. Wir wollen so leben, wie Friedrich der Große durch seine Bauten Berlin leben ließ, der Altes zerbrach, um Neues an seine Stelle zu setzen." (1929, S. 130)

Ausgangspunkt einer Studie über die "Verkehrssanierung der Berliner City" von Stadtbaumeister Brömstrup aus dem Jahre 1931 war die Feststellung, daß Berlin "wie alle Weltstädte" vor einem "städtebaulichen Wendepunkt" stehe. Insbesondere die "gewaltige Entwicklung der Kraftwagen in Berlin" verursache "zu gewissen Zeiten eine beängstigende Verstopfung der innerstädtischen Straßen" (S. 46). Kronzeuge war die bedeutendste Geschäftsstraße der City, die Leipziger Straße (Abschnitt Potsdamer Platz bis Wilhelmstraße), wo das Anwachsen des Fahrradverkehrs (!) den Kraftwagenverkehr "behindert" und "verdrängt" habe, eine für Brömstrup äußerst bedenkliche Entwicklung, die aber bereits durch ein Verbot des Fahrradverkehrs werktags zwischen 8 und 19 Uhr unterbunden worden war. Doch trotz dieser "Besserung" bleibe die Leipziger Straße für einen auf 40 bis 50 Jahre vorauszusehenden Verkehrszuwachs unterdimensioniert. Brömstrups Antwort auf dieses "Verkehrselend" war weder eine Straßenverbreiterung noch ein Straßendurchbruch - auch die erwogene Entfernung der Straßenbahnen aus dem Stadtinnern bringe wenig. Sein Vorschlag zielte - mit Blick auf die großen Vorbilder jenseits des Atlantiks - auf eine Höhendifferenzierung des Verkehrs.

Vorteile eines solchen Konzeptes waren nach Brömstrup die geringeren Kosten gegenüber Straßenerweiterungen und -durchbrüchen. Schließlich werde "der Verkehr auf den Autohochbahnen und Hochplätzen sich fast geräuschlos abwickeln, jedenfalls bei weitem nicht so störend empfunden werden können, wie der Betrieb auf den jetzigen Hochbahnen des elektr. Schnellverkehrs. Die Konstruktion der Autohochbahn ist infolge ihrer geringen statischen Inanspruchnahme der Architektur des Stadtbildes in jeder Hinsicht leicht anzupassen und bietet in dieser Hinsicht nicht die Schwierigkeiten, wie die Konstruktion der elektr. Hochbahn. Die natürliche (Tages- )Beleuchtung wird zwar durch die Anlage der Autohochbahn in den nicht geräumigen Verkehrsstraßen (z.B. Leipziger Straße) für die Geschäfte etwas beeinträchtigt. Für die Beurteilung der vorliegenden Frage ist dies aber nicht wesentlich, da die Geschäfte heute schon durchweg die moderne, das Augenlicht schonende, künstliche Beleuchtung haben und sich derselben auch während der Tagesstunden ständig bedienen." (S. 48)

Brömstrups Plädoyer für eine Autohochbahn in der Leipziger Straße war Teil eines weit umfassenderen Vorschlags für ein "Autohochbahnnetz in Berlin". In der Diskussion dieses Vorschlags war jede Beziehung zwischen konkreten Straßengebäuden und -parzellen auf der einen und der Fahrbahn auf der anderen Seite ausgelöscht, der Verkehr hatte sich vom konkreten Ort emanzipiert, oder besser: Der konkrete Ort war nichts weiter als ein zu überwindendes Hindernis. Hauptstraßen verkümmerten auf dem Plan zu Schnellverkehrsstraßen. Der lokale innerstädtische Verkehr wurde vom Durchgangsverkehr getrennt - die wichtigste Voraussetzung für das Primat des Durchgangsverkehrs. Damit war der entscheidende Schritt zu einer stadtzerstörerischen Verkehrsplanung getan.

Selbst das nach dem Ersten Weltkrieg zum Museum gewordene Berliner Schloß wurde in dieser Optik zum Verkehrshindernis, zur Barriere der großen Achse von Westen nach Osten. Dem Propagandisten der städtebaulichen Moderne, Adolf Behne, wäre es nie in den Sinn gekommen, das Schloß der Hohenzollern als zentralen Punkt des Zentrums zu begreifen. Im Gegenteil, für Behne war das Schloß ein Hindernis für die weitere Entwicklung des Zentrums, ein materielles wie mentales Hindernis, eine "Denkhemmung" (vgl. Behne 1932).

Bereits vor der stadtplanerischen Neuorientierung des Straßenraums zugunsten des Automobils verschärfte sich die Kritik an der überkommenen Bebauungsweise der in Frage gestellten historischen Korridorstraße. Erstrebt wurde im Citybereich die Auflösung der überkommenen Straßenfront, eine Anhebung und - nicht immer - Differenzierung der Gebäudehöhen - bis hin zum Hochhaus. Schon Anfang der zwanziger Jahre kommt es zu einer neuen Hochhausdebatte, die diejenige von vor dem Ersten Weltkrieg an Intensität weit übertraf. Insbesondere Bürohochhäuser sollten - in Anlehnung an die neuen Vorbilder jenseits des Atlantik - die überkommene, nicht mehr geschätzte Silhouette zugunsten einer neuen "Stadtkrone" revolutionieren. "Die Zeit der Kathedralen ist vorbei. Wohl werden noch Kirchen und Türme gebaut. Aber selbst im Lande der großen Abmessungen und der Riesenvermögen drüben im fernen Westen wachsen die großen Dome nicht mehr. Die hohen Häuser, die dort entstehen, sind anderer Art. Sie dienen nicht übersinnlichen Idealen, sondern dem profanen Zweck, in eifrigster Arbeit neue Werke zu schaffen, neue Geldquellen zu erschließen." (Möhring 1921, S. 1f.)

Im Rahmen der Hochhausdebatte wurde eine ganze Reihe von Hochhausstandorten ins Gespräch gebracht, so die Umgebung des Bahnhofs Friedrichstraße, die "Linse" zwischen der Stadtbahn und der Spree im Westen der Museumsinsel, die Umgebung des Hackeschen Marktes, der Bereich des Lehrter Bahnhofes, die Gegend westlich des Potsdamer Platzes, der Askanischen Platz, der Blücherplatz im Süden des Halleschen Tores, die Ministergärten und der Königsplatz bzw. Platz der Republik. Die neue Berliner Bauordnung erlaubte bereits etwas höhere Geschäftshäuser, sofern die Wohnnutzung ausgeschlossen wurde. Ausdruck dieser kulturellen Veränderung waren - bereits vor der Wende zur automobilen City - etwa der Ideenwettbewerb für ein Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraße 1921/22 und der Ideenwettbewerb zur Umgestaltung der Straße "Unter den Linden" (1925), dann aber vor allem die Vorschläge Ludwig Hilberseimers für den Bau eines vereinheitlichten neuen Zentrums an Stelle des polarisierten alten (1928). Diese Konzepte demonstrierten eine klare Absage nicht nur an die Korridorstraße, sondern auch an die kleinteilige Parzellenstruktur und an die Mischung der Funktionen im Citybereich. Sie zielten auf etwas Neues: auf eine Weltstadtcity.

Natürlich gab es auch in der Hochhausfrage viel Streit - etwa um die stadtverträgliche Höhe. Martin Wagner etwa plädierte für ein bescheidenes "Hochhaus", wie es zum Beispiel Peter Behrens am Alexanderplatz realisieren konnte: "Berlin wird gut tun, sich mit allen Kräften gegen die Entwicklung des Hochhauses in seinem Geschäftszentrum, der City, zu wehren. [...] Deutschland und Berlin ist nicht reich, nicht kurzsichtig und nicht fahrlässig genug, durch eine gegenwärtige Nachgiebigkeit vor dem Kind im Künstler und dem 'business' im 'banker' seine wirtschaftliche Zukunft, seine öffentlichen Finanzen und das organisch gewachsene städtebauliche Gefüge zu opfern. Wohl werden wir an einigen wenigen Stellen des Stadtplanes, zur Förderung großzügiger Bauvorhaben und zur Erzielung eines künstlerisch hochwertigen Stadtbildes dem sechsten das siebente und achte und äußerstenfalls das neunte Stockwerk hinzufügen. Hier aber sollte es eine Grenze haben, eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Die Städtebauer Amerikas warnen Europa, wenn man mit ihnen unter vier Augen spricht." (1929b, S. 44)

Weltstadt, nicht mehr nur Hauptstadt - das war der Traum der späten zwanziger Jahre. "Dieses Berlin", so Walter Curt Behrendt, "steht heute im Begriff, aus der Hauptstadt des Deutschen Reiches, aus einer nationalen Metropole, die es bisher gewesen ist, eine internationale Weltstadt zu werden." (1929, S. 98) Weltstadt - das war die Befreiung von gestern, das bedeutete dynamischen Autoverkehr, sachliche Formen, Hochhäuser, die die muffige Traufhöhe durchbrechen, das waren große, monofunktionale Zonen für Geschäfte, für Kultur, für Vergnügungen und auch für die neue, demokratische Regierung der Weimarer Republik. Weltstadt - das bedeutete Partnerschaft und Konkurrenz mit den wenigen anderen anerkannten Weltstädten: mit Paris, London und New York, mit Großstädten, deren Etikettierung als Weltstadt eigentlich nichts mehr mit der Hauptstadtfunktion gemein hatte.

Das städtebauliche Konzept der Weltstadt Berlin hatte in den zwanziger Jahren relativ eindeutige Voraussetzungen. Weltstadt meinte vor allem Weltstadtcity, den Umbau des historischen Zentrums von Berlin, aber auch den Ausbau des alten Zentrums, die Cityerweiterung. Für die übrige Stadt war das Leitbild die Anlage durchgrünter, aufgelockerter Wohngebiete mit möglichst nur dreigeschossigen Gebäuden, die gebührenden Abstand von reinen Industriezonen halten. Eine durchmischte, dicht bebaute Innenstadt im Sinne des überkommenen wilhelminischen Mietshausgürtels hatte in diesem Konzept keinen Platz mehr. Die von einer harmonischen Siedlungs- und Industrielandschaft umgürtete Weltstadtcity, organisiert durch den öffentlichen Personennahverkehr mit der Perspektive und Hoffnung eines massenhaften Automobilverkehrs - das war, kurz zusammengefaßt, das Konzept der neuen Großstadt, einer Großstadt, die in Gestaltung und Funktion radikal mit der alten Stadt brach, die die Zerstörung der alten Stadt nicht nur in Kauf nahm, sondern bewußt anstrebte.

Jenseits aller Träume von einer expandierenden modernen, autodurchfluteten, hochhausgeprägten Weltstadtcity blieb die "Geschäftsstadt" in der Weimarer Republik relativ unverändert. Zu den bereits etablierten Geschäftsvierteln gesellte sich seit 1920 in der südlichen Friedrichstadt das "Filmviertel" (Leyden 1933, S. 154). Doch als City wurde in der Weimarer Republik nicht mehr nur die "Geschäftsstadt" von Lesser wahrgenommen. Immer wieder wurde von der Westwanderung der City gesprochen. "Der Entwicklungszug im Stadtinnern geht [...] von Osten nach Westen. Die Hauptgeschäftsgebiete, die ursprünglich nur die Altstadt rechts der Spree umfaßten, haben sich über die Linden, die Friedrichstraße, Leipziger und Wilhelmstraße auf den Potsdamer Platz und seine Umgebung ausgedehnt. Diese Entwicklung wird weitergehen. Die Gegend am Zoologischen Garten wird ein - wenn auch besonders gearteter - Teil der City werden." (Bürgermeister Böß 1929, S. 115) So hatten etwa die "großen eleganten Läden" die Friedrichstraße eher verlassen und waren nun in den westlichen Stadtteilen zu finden (Leyden 1933, S. 159). Vor allem der Kurfürstendamm zwischen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und Knesebeckstraße hatte sich zu einer Haupteinkaufsstraße entwickelt. Der Stadtgeograph Fiedrich Leyden sprach weiter von einem "Vergnügungsviertel" um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (S. 154).

Die Westwanderung der City ermunterte zu weiteren Träumen. So schlug im Jahre 1926 Hermann Dernburg in der Zeitschrift "Städtebau" eine Vernetzung des historischen Zentrums mit dem aufstrebenden Zentrum in Charlottenburg vor. Sehr zu wünschen, so Dernburg, wäre nämlich "ein großer und möglichst gerader Verkehrsweg vom Spittelmarkt zum Kurfürstendamm [...]. (S. 6) Hintergrund dieses Vorschlags ist die Annahme einer gewaltigen Nachfrage nach Citystandorten. "[...] völlig getrennt vom alten Verkehrszentrum Berlins, das sich um Linden, Friedrichstraße, Leipziger Straße gruppiert, [ist] ein neues entstanden, das eine erst an der Halenseebrücke endende Ausdehnungsmöglichkeit besitzt. Die dazwischen liegende Stadtgegend, vom Potsdamer Platz bis zur Gedächtniskirche, nimmt ein ruhiges, altes, ja baulich, wohnungstechnisch, wie geschäftlich längst überaltertes Wohnviertel ein und legt eine Barre zwischen das alte und das neue Geschäftsviertel, zum Nachteil aller drei Faktoren. [...] Es scheint nun wünschenswert, diesem künstlichen Zustande ein Ende zu machen, und das alte mit dem neuen Berliner Geschäftszentrum zu verbinden und dadurch eine neue zentrale Geschäftsgegend zu schaffen." (S. 6) Für dieses neue Cityband sollte der Landwehrkanal trockengelegt werden. Auf dem Boden des Kanals könnte dann die U-Bahn verkehren, auf dem Deckel wäre eine "Automobilstraße für Schnellverkehr" anzulegen. "Die beiden Seiten dieser Prachtstraße würden alsbald einer Neubebauung mit Hotels, Geschäfts- und Bürohäusern erschlossen sein. Die Straße würde eine Breite von 70 m haben, während die Linden nur 60 m breit sind. Es wird kaum eine zweite Weltstadt geben, die eine derartige Geschäftsstraße aufzuweisen hätte." (S. 8)

An die "rückständige" Altstadt verschwendete Dernburg keinen Gedanken. Sein Vorschlag zeigt die Konkurrenz zweier völlig unvereinbarer planungspolitischer Strategien: die Kanalisierung erhoffter zusätzlicher Citystandortnachfrage entweder in der Altstadt oder westlich des historischen Zentrums.

Der Zug nach Westen rückte die Altstadt immer weiter ins Entwicklungsabseits. Die altstädtischen Cityerwartungsgebiete, also die historischen, noch nicht tertiärisierten Zonen, wurden tendenziell entwertet und drohten zu verfallen. Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen der Stadträte Ernst Reuter und Martin Wagner seit 1926/27 zu sehen, die südliche Altstadt verkehrsgerecht umzubauen.

Ihre gemeinsam mit Martin Mächler als dem Vertreter des City-Ausschusses erstellten Planungen sollten "dem Zug des Geschäftslebens nach Westen entgegenwirken" (Scarpa 1984, S. 288). Ziel war die Beseitigung der Wohnungen, der kleinen Parzellen, der kleinen Häuser und engen Straßen. Daß die überkommenen Verhältnisse im östlichen Teilzentrum einer Weltstadtcity nicht würdig waren, daran ließ Martin Wagner keinen Zweifel. "Die City", so Wagner bedauernd, "umfaßt heute noch desolaten Bauboden in größerem Umfang, der für 200 Mark den Quadratmeter zu haben ist." (1929, S. 231) Nicht zuletzt wegen der sich zuspitzenden wirtschaftlichen Situation wurde im März 1931 der Antrag auf Ausschreibung eines Wettbewerbes zur Sanierung der südlichen Altstadt von der Stadtverordnetenversammlung abgelehnt.

Nach dem politischen Machtwechsel 1933 wurden die 1931 gescheiterten Pläne noch einmal aus der Schublade geholt. So erschien im Jahre 1934 in der noch von Martin Mächler herausgegebenen "Deutschen Bauzeitung" ein ganze Reihe von Artikeln, die die Planungen der Weimarer Republik wieder aufwärmten. Der kommissarische Bürgermeister des Bezirks Berlin-Mitte, Lach, schrieb damals: "Im Fischerkiez [...] sind ganze Häuserblocks abrißreif." (1934, S. 25). Dem Artikel des Bezirksbürgermeisters folgte eine sehr ausführliche Darstellung der Ergebnisse des Gutachtens des Deutschen Vereins für Wohnungsreform. Schließlich forderte ein Dr. Sandow die Einsetzung eines "Staatskommissars für die Sanierung der City von Berlin", einen "Führer der City von Berlin". Anlaß für diese Forderung war die Klage, daß die Kaufkraft der Altstadt "mehr oder weniger den Rücken kehrt. [...] Für den Städtebauer entsteht nun die große Frage, ob er diesen 'Zug nach Westen' eindämmen und wieder in die City zurückführen kann." Und weiter: "Wie wollte es die City fertigbringen, die modernsten Lebensströmungen des Großstädters aufzuhalten, wenn sie selbst in ihrer ganzen Form so undynamisch ist, daß sie nicht einmal rein baulich und verkehrstechnisch den gesteigerten Ansprüchen eines Weltstädters gewachsen ist? Die City ist in einem Spinnwebennetz kleinster Grundstücksgrenzen eingefangen, die jede Erweiterung einer Straße und jede Erweiterung eines Geschäftshauses von einem Zufall oder von der guten Laune und dem guten oder schlechten Willen des Nachbarn abhängig macht." (1934, S. 142) Damit war auch die Aufgabe des geforderten "Führers" klar umrissen: "Die Wohnviertel der Armen und Ärmsten mit ihrer dezimierten Kaufkraft hemmen die Entwicklung der City und müssen durch eine radikale Abwrackung der desolaten Wohnviertel beseitigt werden." (S. 144) Hinter dem Pseudonym Dr. Sandow verbarg sich niemand geringeres als Dr. Martin Wagner.

Doch auch in der nationalsozialistischen Zeit wurden die Pläne zum Umbau der südlichen Altstadt in der von Wagner erwünschten Dimension nicht durchgeführt. Zwar wurde vor allem eine Sanierung des südlichen Teils von Alt-Berlin und des Friedrichswerder eingeleitet, aber die durch den Generalbauinspektor Albert Speer forcierte Neugestaltungsplanung sollte den Schwerpunkt der City noch weiter nach Westen verschieben. Der stark durch jüdische Kaufleute und Industrielle geprägte City-Ausschuß, der im Januar 1934 noch eine Denkschrift zur Entwicklung einer deutschen City vorbereitet hatte (vgl. Balg 1986, S. 363f.), wurde schon im März 1934 aufgelöst. 1935 verließ Martin Wagner Deutschland.

Ausgangspunkt der Speerschen Neugestaltungsplanung war der proklamierte gewaltige Bedarf an neuen City-Großbauten, für die es im bisherigen Zentrum Berlins keine geeigneten Bauplätze gebe, Bauplätze, die das mit solchen Großbauten verbundene Verkehrsaufkommen verkraften könnten. "Der Gedanke, für diesen Zweck einen der vorhandenen großen Straßenzüge auszubauen, ist erwogen, reiflich untersucht und verworfen worden. Denn bereits eines der ersten praktischen Beipiele zeigte, daß selbst die breiteste und großzügigste Straße Berlins, die Straße 'Unter den Linden', für bestimmte neue Bauten nicht mehr in Betracht kommen konnte, da sie den damit verbundenen größeren Verkehrsanfall nicht bewältigt. [...] Es ist völlig klar, daß demnach etwa die Friedrichstraße oder die Leipziger Straße für den weiteren Neubau großer verkehrsanziehender Bauwerke noch viel weniger in Frage kommen kann, da hier bereits der heutige, normale Verkehr schon zu erheblichen Stockungen führt. Es folgt daraus, daß für die Errichtung der notwendigen großen Neubauten eine neue Straße erbaut werden muß, die nicht nur den Verkehr der Jetztzeit, sondern auch den in Zukunft zu erwartenden, bedeutend verstärkten Verkehr bewältigt." (Speer am 28. Januar 1938 in der "Berliner Morgenpost")

Im Rahmen der Neugestaltung sollten auch die "veralteten" Bahnhöfe am Potsdamer bzw. Askanischen Platz aufgegeben werden. Das Konzept der sich kreuzenden Achsen zielte auf eine Ergänzung der eher ost-west-gerichteten City durch eine neue Nord-Süd-Entwicklungsschiene, ein Vorschlag, der bereits zwei Jahrzehnte vorher von Martin Mächler formuliert worden war. Das Konzept zielte weiter auf eine Verlagerung des Cityschwerpunktes nach Westen und schließlich auf eine Zentralisierung des innerstädtischen Verkehrs auf die beiden Achsen - ein Aspekt, der der behaupteten Automobilorientierung eher widersprach.

Von Bedeutung war aber nicht nur die Absicht der Verschiebung des Zentrums durch die geplante, aber nicht realisierte Nord-Süd-Achse. Wenig beachtet wurde in der Regel der Effekt der planungsvorbereitenden Verdrängung von bestehenden Verwaltungsstandorten im Bereich der Nord-Süd-Achse. Auf diesen Effekt hat Hans Borstorff nach dem Kriege hingewiesen. "Als dann die Speerschen Bereichserklärungen erfolgten, und damit vor allem das gesamte Gebiet westlich des Potsdamer Platzes sowie des südlichen und nördlichen Tiergartenviertels in Auflösung kam, erfolgte ein tiefgreifender Strukturwandel mit Umorientierung dieser Unternehmen nach dem Berliner Westen. [...] Viele Hundert derartige größere und kleinere Verwaltungen, Organisationen und Verbände lagen über das West-Berliner Gebiet bis in den Grunewald hinein zerstreut. Bei der Hast, mit der sich dieser Umschichtungsprozeß vollziehen mußte, konnte es selbstverständlich zu keinem organischen Wachstum irgendeines besonders pointierten Schwerpunktes kommen. Eine 'westliche Verwaltungs-City' entstand nicht." (1948, S. 76f.)

In der Zwischenkriegszeit veränderte sich also das Zentrum Berlins nur wenig - trotz einer Vielzahl radikaler Planungen und aller Beschwörungen von Dynamik, Maschine, Weltstadtverkehr. Die privaten Investoren waren wirtschaftlich weit weniger potent als in der Kaiserzeit, und die öffentliche Hand war zwar programmatisch offensiv, durch die Haushaltslage aber praktisch gezügelt. Selbst die "Westwanderung der City" darf nicht überschätzt werden: Tatsächlich blieb die Dorotheen-/Friedrichstadt weiterhin der Kernbereich der City. Eine großzügige Tertiärisierung des östlichen Stadtzentrums scheiterte - wie schon in der Kaiserzeit. Im äußeren Westen dagegen entwickelte sich um die imperiale Trutzburg der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein auf die dortige Wohnbevölkerung bezogenes elegantes Laden- und Vergnügungsgebiet. Allerdings war diese Gegend weiterhin wesentlich durch Wohnungen geprägt, wenngleich durch sehr teure Wohnungen (vgl. Borstorff 1948 , S. 54). "An die Vielseitigkeit und Großzügigkeit der Aufgaben der City", so Herbert Louis 1936, reichte die Geschäftsgegend in der Tauentzienstraße und am Kurfürstendamm aber "nicht heran" (S. 18). Das drückte sich auch in den Bodenpreisen aus. Im Jahre 1936 betrug der Preis pro Quadratmeter Boden etwa an der Leipziger Straße 1.400 - 2.500 Mark. Die Preisspanne am Kurfürstendamm betrug dagegen nur 600 - 1.500 Mark. Der Aufstieg des Kurfürstendamms zeigte sich allerdings im Vergleich zur Preisspanne an der Königstraße, der bedeutendsten Straße des östlichen Teilzentrums: Dort war dasselbe Preisgefüge wie am Kurfürstendamm zu vermerken. (Topographischer Atlas 1987, S. 27)

Das war natürlich keineswegs die Entwicklung, die sich die Stadtplaner insbesondere seit der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erhofft hatten: Während in der späten Weimarer Republik Martin Wagner, Ernst Reuter und Martin Mächler eine cityorientierte Aufwertung der Altstadt anstrebten, zielte die Neugestaltungsplanung von Albert Speer auf eine weitere drastische Westwanderung der City und damit auf eine Entwertung der Dorotheen-/Friedrichstadt. Beiden Konzepten lagen städtebauliche Prinzipien zugrunde, die heute zu Recht als zentrale Fehler der städtebaulichen Moderne diskutiert werden: das Prinzip der autogerechten City und das Prinzip der monofunktionalen tertiären City auf Großparzellen. Dazu kam der beabsichtigte Bruch mit den städtebaulichen Proportionen der Kaiserzeit, der in der Planung von Hochbauten seinen spektakulärsten Ausdruck fand. Dieser Bruch hätte den bedeutsamsten positiven Aspekt der überkommenen Zentrumsstruktur, das Zentrum ohne zentralen Punkt, verletzt.

Am 1. September 1939 entfesselten die Nationalsozialisten den Zweiten Weltkrieg. Als der Krieg schließlich in sein Ursprungsland zurückkehrte, wurde das Zentrum der Reichshauptstadt mit den dort konzentrierten Schaltstellen des "Dritten Reiches" zu einem bevorzugten Ziel der alliierten Bomben. Am 3. Februar 1945 erlebte Berlin die schwersten Bombenangriffe: "Ein Tag, wie er in dieser Jahreszeit selten ist; die Sonne schien", so ein Rückblick ein Jahr später. "Vor der Mittagsstunde heulten die Sirenen. Das war nichts Ungewohntes mehr. Mancher Stadtteil von Berlin war in Trümmer gelegt. Aber das Leben pulste immer noch. Die Innenstadt hatte schwere Schrammen. Aber sie war doch bis zu einem gewissen Grade noch die alte geblieben. An diesem 3. Februar sank sie, in Flammen gehüllt, in sich zusammen. Es war das Werk von anderthalb Stunden. Am Mittag standen ihre großen Straßenzüge, sturmgepeitscht, in hellen Flammen. Der Rauch legte sich über die brennenden Herde und verdunkelte langsam die Sonne. Und vom Herzen der großen Stadt her legten sich Schatten auf die Außenviertel, über die sie als unheilkündende Zeichen mit dem Winde zogen." (Der Tagesspiegel 3.2.1946) Weite Bereiche der Berliner Stadtmitte und des Bezirkes Tiergarten glichen danach einem Trümmerfeld. Allein im Bezirk Mitte wurden an jenem Tag über 70 Prozent der Gebäude zerstört, darunter viele historische Bauten des historischen Zentrums - Unter den Linden und anderswo.

1.3. Das teilzerstörte, gespaltene und geschrumpfte Zentrum nach dem Zweiten Weltkrieg

Der Zweite Weltkrieg markierte den härtesten Bruch in der Entwicklung des Zentrums. Von Bedeutung waren dabei nicht nur und nicht in erster Linie die Kriegszerstörungen: Obwohl im Zentrum die größten Zerstörungen zu verzeichnen waren, blieb die unterirdische stadttechnische Infrastruktur weitgehend erhalten. Der Parzellenstruktur konnten die Bomben sowieso nichts anhaben. Von weitaus größerer Tragweite war dagegen die durchgreifende funktionale Zerstörung der im Kaiserreich begründeten und nach 1918 lediglich modifizierten Zentrumsstruktur im Zuge der Spaltung Berlins.

Große Unsicherheit bestand nach 1945 zunächst über die künftige Rolle Berlins, eine Unsicherheit, die erst später von der Sicherheit der Spaltung abgelöst wurde, wobei auch deren Implikationen und Dauer nicht kalkulierbar waren. Wird Berlin, so die Fragen des Jahre 1946, "eine Beamtenstadt mit Zentralstellen für Regierung, Handel und Verkehr? [...] Kurz: welcher gesellschaftliche und wirtschaftliche Stand kann heute und in naher Zukunft für Berlin angenommen werden?" (Neue Bauwelt 8/1946, S. 1)

Nicht wenige Stadtplaner in beiden Teilen Deutschlands nahmen diese Situation durchaus mit einem "wehmütigen Lächeln" zur Kenntnis und begriffen die gewaltigen Zerstörungen als "Chance", auf den Trümmern der alten Stadt eine neue Stadt zu gestalten und so die unerfüllt gebliebenen Wünsche und Träume der zwanziger Jahre - wenngleich in modifizierter Form - schließlich doch noch Wirklichkeit werden zu lassen.

So zielten schon die großen Planungen der ersten Nachkriegsjahre nicht auf einen Wiederaufbau, sondern einen Neuaufbau Berlins - vor allem der von einem Planungskollektiv unter Beteiligung des Stadtbaurats Hans Scharoun verfaßte "Kollektivplan" (1946) mit dem Leitbild einer im Berliner Urstromtal zu entwickelnden autogerechten "Stadtlandschaft", aber perspektivisch auch der von Willi Görgen und Walter Moest entworfene "Zehlendorfer Plan" (1947) mit dem Leitbild einer autogerechten Stadt. Für die Reste der historischen Stadt war abgesehen von einzelnen "Traditionsinseln" in beiden Planwerken programmatisch kein Platz mehr. Weitgehend einbezogen wurde die vorhandene Stadt indessen in das Konzept des 1946/47 von Karl Bonatz initiierten "Neuen Plans von Berlin" - dies jedoch nicht aus Überzeugung, sondern aus pragmatischer Einschätzung der materiellen Gegebenheiten und der verfügbaren Ressourcen.

Zur Frage der City äußerte sich vor allem der radikalste Plan der unmittelbaren Nachkriegszeit, der Kollektivplan, nur sehr zuückhaltend. "Die einzelnen Standorte der Büros des Staates, der Stadt, der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Werkstätten, der Konfektion, der Druckereien, der Wohnungsausrüstung gliedern sich als selbständige Zellen, verkehrlich an Straße und Schiene kürzest angeschlossen und ergänzt durch Hilfsbetriebe, speziell Einrichtungen des Post- und Nachrichtenwesens, in die Maschen des Straßennetzes ebenso ein, wie die vom Durchgangsverkehr freigehaltenen historischen Stadtteile 'Unter den Linden', Museumsinsel, die Hochschulzelle usf." (Havemann 1946, S. 28)

Auffallend ist, daß der kritische Chronist Wilhelm Havemann hier das Wort "City" nicht gebraucht - ein Hinweis auf die damals empfundene historische Belastung nicht nur dieses Begriffs, sondern auch dieser Funktion. "Das Gebiet der Innenstadt", so Havemann an anderer Stelle, "das früher schon häufiger als 'City' bezeichnet wurde [...], war ein solches, das zum erheblichen Teil der 'Repräsentation' diente, so wie man diese damals verstand. [...] Eine große Anzahl von Menschen aller Art lebte von dieser Repräsentation, die wir uns nun heute nicht mehr leisten können und die bereits durch die Bomben und die Brände der vergangen Jahre ausgelöscht ist." (1946, S. 41)

In der Amtszeit des Stadtrats Karl Bonatz waren die Skrupel gegenüber Repräsentation bereits weniger ausgeprägt. Der Sozialdemokrat forderte "ein deutlich erkennbares politisches, wirtschaftliches und kulturelles Zentrum". Allerdings sollte beim Aufbau des Zentrums ein goldener Mittelweg beschritten werden: "Wir gehen damit allen Extremen bewußt aus dem Weg, einerseits der wirtschaftlich und praktisch untragbaren, völligen Freihaltung der Stadtmitte, die von manchen Theoretikern propagiert wird, andererseits einer noch weiteren Verdichtung durch enge Bebauung mit Turmhäusern. Diese ausschließlich von der Spekulation und Gewinnsucht in manchen Städten des Auslandes gewählten Formen kann man nur als Ausgeburten des Wahnsinns bezeichnen." (1948, S. 8f.)

Unter Bonatz entwickelte Richard Ermisch seine einschneidenden Vorstellungen zur Neustrukturierung der City im Bereich Dorotheen-/Friedrichstadt, ein Planer, der schon in den dreißiger Jahren mit seinen Plänen zum Altstadtumbau bekannt geworden war. Wie die anderen Pläne der unmittelbaren Nachkriegszeit blieben auch Ermischs Entwürfe Papier. Die zerstörerischen Visionen einer "neuen Stadt" prägten jedoch das Denken vieler Stadtplaner in der Folgezeit.

"Unsere Innenstadt", so Hans Borstorff noch 1948, "ist z. Z. kaum mehr als ein lokalgeographischer Begriff, ein Hohlraum im historischen Mittelpunkt der Stadt, dem infolge Fehlens jeder übergeordneten - gesamtdeutschen oder selbst einheitlichen Berliner - Aufgabe jedes Fundament entzogen ist und jeder Impuls zu neuer Kraftentfaltung fehlt. Wir müssen uns auch darüber klar sein, daß die City nur durch Zuweisung solcher übergeordneter Aufgaben einen Sinn erhält und ohne diese nicht mehr und nicht weniger ist, als jeder beliebig andere Bereich Berlins. Es ist für uns eine erschütternde Erkenntnis, daß noch immer so wenig Aussicht auf die Verwirklichung der Wirtschaftseinheit Deutschlands besteht. Es nützt nichts, unsere Augen davor zu verschließen, daß wir bei einem Fehlschlag auch die City auf den großen Altar unserer Opfer legen müssen." (S. 71f.)

Hans Borstorff war seit 1945 Referent des Hauptamtes für Planung II in der Abteilung für Bau- und Wohnungswesen des Magistrats von Groß-Berlin, der sich auf ausdrückliche Anforderung des Planungskollektivs mit Standort- und Strukturfragen des Berliner Zentrums befaßte. Borstorffs Arbeiten wurden 1948 in einer Schrift mit dem bezeichnenden Titel "Stadt ohne Zentrum" veröffentlicht. Diese strategische Schrift verdient gerade heute ein erneutes Studium.

Für Borstorff wie andere Planer der unmittelbaren Nachkriegszeit stand die Beibehaltung des historischen Standortes der City außer Frage, ebenso das Ziel einer "reinen Geschäftsstadt ohne Wohnungen" (Moest 1947, S. 29). Borstorff brachte aber auch die Idee eines "Citybandes" "vom Alexanderplatz bis zum Knie Charlottenburg bzw. Kurfürstendamm-Uhlandstraße" (vgl. Borstorff 1948, S. 77ff.) ins Gespräch.

Die Spaltung Berlins 1948 ließ alle gesamtstädtisch orientierten Ideen Makulatur werden. Sie führte - wie von Borstorff befürchtet - zur Herausbildung von zwei Stadtzentren: eines Zentrums um das Gebiet zwischen Alexanderplatz und Marx-Engels-Platz im Ostteil und eines Zentrums um den Hardenbergplatz im Westteil Berlins. Sie führte auch - ebenfalls von Borstorff vorhergesehen - zur Verlagerung wichtiger Cityfunktionen nach Westdeutschland. Während Ost-Berlin Hauptstadt der neuen DDR und damit staatssozialistischer Hauptinvestitionsort wurde, durfte das von privaten Investoren gemiedene, allenfalls durch Steuervorteile mit privatem Kapital künstlich beatmete West-Berlin die Rolle einer "Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschlands" im Wartestand spielen, die Rolle eines "Schaufensters des Westens".

In West-Berlin wurde der Widerspruch zwischen City-Inszenierung und tatsächlicher tertiärer Zentrumsentwicklung besonders offenkundig. Die inszenierte City war punktförmig, oder vielleicht präziser: dreipunktförmig. Den einen Punkt bildete das Ensemble der zerstörten Kaiser-Wilhelm- Gedächtniskirche mit den Neubauten von Egon Eiermann, flankiert vom Hochhaus mit dem großspurigen Namen "Europacenter". Dieses 1963-65 errichtete, 86 Meter hohe "Center Europas" wurde durch ein Symbol bekrönt, das auf Verhältnisse in der Stadt, der City, der Gesellschaft verweist: das Symbol des Mercedessterns. Den zweiten Punkt bildete die platzartig betonte Kreuzung Joachimsthaler Straße/Kurfürstendamm, die nicht nur durch das Café Kranzler berühmt war, sondern auch durch ein weiteres bedeutungsschweres Zeichen: die Kanzel zur Überwachung des automobilen Weltstadtverkehrs. Den dritten Punkt markierte im wesentlichen ein einziges Gebäude, das materialisierte "Schaufenster des Westens": das KaDeWe (Kaufhaus des Westens) am Wittenbergplatz. Alle drei Punkte lagen ganz in der Nähe des zentrumsfördernden Bahnhofs Zoo.

Diese funktional gesehen äußerst magere City West-Berlins wurde über Postkarten, Reiseführer, Drucke und Fotos bis zur Überdrüssigkeit in Szene gesetzt. Weitgehend unbeachtet blieben dagegen die anderen Orte der Konzentration tertiärer Funktionen, vor allem das Verwaltungszentrum am Fehrbelliner Platz, ein städtebauliches Erbe der nationalsozialistischen Zeit, eine trostlose Bürohausballung mit immerhin etwa 50.000 Beschäftigten in der Umgebung, die nach Büroschluß in urbaner Leere versank.

Die "West-City" der Nachkriegszeit war weder quantitativ noch qualitativ mit der historischen City vergleichbar, sie war das Ergebnis einer Simulation. "Von einem echten City-Viertel", so Burkhard Hofmeister noch 1987, "kann bisher kaum die Rede sein." (Topographischer Atlas 1987, S. 35) West-Berlin, so auch Dieter Hoffmann-Axthelm, hatte "kein eigenes Zentrum. [...] Die City zwischen Wittenberg-, Ernst-Reuter-, Olivaer und Spichernplatz war nicht imstande, das irreguläre Gebilde Berlin-West zu zentrieren." (1991)

Jenseits realer Entwicklung und City-Showbusiness beanspruchten die Planungen West-Berlins weiterhin für Gesamt-Berlin Gültigkeit. Ein wichtiges Konzept in diesem Zusammenhang war das bereits unmittelbar nach dem Kriege vorgedachte "City-Band". In einem Informationsblatt des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin von 1968 wurde diese Idee propagiert und - angesichts der Existenz unterschiedlichster Funktionsgebiete im Bereich zwischen Kaiserdamm und historischer City - flugs in ein positives Konzept der "guten Mischung aller Stadtfunktionen" einschließlich des Wohnens umgemünzt. Die Gefahren dieser krampfhaften planerischen Verknüpfung der West- mit der Ost-City für die bestehenden nicht-zentralen Wohn- und Gewerbestrukturen waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht aktuell. Die voluntaristische Idee des Citybandes wurde zu Beginn der achtziger Jahre durch die im Rückblick nicht minder willkürliche Idee des "Zentralen Bereichs" in den Schatten gestellt. "Mehr als Sandkastenspiele", so Bernhard Schulz im "Tagesspiegel" vom 5. Mai 1991, "sind damals nicht herausgekommen."

In Ost-Berlin wurde angesichts der Randlage der nördlichen Friedrichstadt der historische Kernbereich des Zentrums - mit Ausnahme der relativ aufwendig wiederaufgebauten Straße Unter den Linden - zunächst völlig aufgegeben. Friedrichstraße, Behrenstraße, Wilhelmstraße und Leipziger Straße kümmerten vor sich hin. Der Bau der auf 90 Meter verbreiterten Stalinallee verdeutlichte die geplante und auch realisierte Ostwanderung der Ost-Berliner City. Auch in Ost- Berlin kann man von einer Dreipunktcity sprechen, oder besser von einem Zentrumsband mit drei Gliedern - allerdings auf einer deutlich größeren Fläche.

Den einen Punkt bildete der Marx-Engels-Platz, als dessen östliche Begrenzung jenseits der Spree in den fünfziger Jahren noch statt des 1950 abgeräumten Schlosses der symbolische Glanzpunkt der sozialistischen City, der Stadt und des Staates geplant war: das in Anlehnung an die Hochhäuser Moskaus gestaltete, 150 Meter hohe "Zentrale Gebäude" für Ministerrat und Volkskammer. Statt des Hochhauses wurde 1973 bis 1976 - allerdings auf der westlichen Spreeseite - der Palast der Republik gebaut. Der Marx-Engels-Platz wurde im Westen durch den 1964-67 errichteten Bau des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten geradezu abgeriegelt. Der Bau markierte städtebaulich das schroffe Ende des "zentralen Ensembles" (Schweizer 1967, S. 8).

Den zweiten Punkt bildete der Alexanderplatz, der zwischen 1962 und 1970 völlig neu gestaltet wurde: Neben den 1928-31 errichteten Gebäuden von Peter Behrens prägten vor allem das Kaufhaus (1967-70) und das Hochhaus des Interhotels "Stadt Berlin" (1967-70) den autofreien Platz, der an drei Seiten von überdimensionierten Autostraßen begrenzt wurde. In gewissem Maße waren am Alexanderplatz die zerstörerischen Träume der zwanziger Jahre in Erfüllung gegangen.

Zwischen Alexanderplatz und Marx-Engels-Platz wurde ein großer Freiraum geschaffen, der neben der restaurierten Marienkirche als letztem Überbleibsel von Alt-Berlin vor allem dem neuen Fernsehturm als Standort diente. Dieser 365 Meter hohe, von Hermann Henselmann ins Gespräch gebrachte "Turm der Signale" wurde zunächst abgelehnt, dann aber als zentrales Zeichen des Zentrums zwischen 1965 und 1969 doch hochgezogen. Es folgte der Bau der Freiraumkanten an der Karl-Liebknecht-Straße und Rathausstraße bis 1973. Damit war die städtebauliche Struktur des mittelalterlichen Berlin in der DDR-Ära vollständig ausgeschabt worden. Wovon Martin Wagner noch geträumt hatte, hatten die Bomben des Zweiten Weltkrieges vorbereitet und die Herren der DDR exekutiert. Die kleinteilige Parzellenstruktur, die niedrigen Häuser, die kleinen Gewerbebetriebe waren beseitigt worden.

Zerstört wurde das alte Berlin aber am radikalsten auf der Fischerinsel, wo erst in den sechziger Jahren die bedeutenden Reste der historischen Stadt spurlos abgeräumt und durch eine Konfiguration von Hochhäusern ersetzt wurden. Von Wohnhochhäusern im übrigen, was die praktische Kritik am Prinzip des rein tertiären, kapitalistischen Zentrums ausdrücken sollte.

Tiefgreifend verändert wurde schließlich auch eine der bedeutendsten Straßen der Friedrichstadt: die Leipziger Straße. Mit dem Neubau des Ostteils der Leipziger Straße im Sinne einer "repräsentativen Magistrale" (Schweizer 1969, S. 526) wurde das leistungsfähige, dezentrale Gefüge des barocken Gittergrundrisses ohne Not erheblich beeinträchtigt.

Die Zerstörung des alten Zentrums war in den späten fünfziger Jahren auch im Westen beschlossene Sache. Erinnert sei nur an den "Ideenwettbewerb für die Gestaltung der Hauptstadt Berlin" von 1957, der den Anspruch West-Berlins, für Gesamt-Berlin zu planen, einem propagandistischen Höhepunkt zuführte. Die Zielsetzungen und Ergebnisse des Wettbewerbs verdeutlichten einmal mehr die stadtzerstörerische Planungsideologie der Wiederaufbauära: Der historische Stadtgrundriß der alten City Berlins sollte radikal verändert werden, gewaltige Autotrassen sollten das Zentrum bedienen, und die geplante Bebauung brach mit den überlieferten Dimensionen der Gebäude und Parzellen. Die Vernachlässigung der alten City durch die Ost-Berliner Stadtplanung - so zeigt der Rückblick heute - war wohl die einzige Möglichkeit, die Reste der historischen Stadt zu retten.

Erst mit dem Beginn einer Krise der Prinzipien der städtebaulichen Moderne in den siebziger Jahren kam es zu einer Neubewertung der historischen Strukturen des Berliner Zentrums - in Ost wie West. Diese Neubewertung erreichte - wen wundert es - im Zuge der Vorbereitung der 750-Jahr- Feier Berlins einen Höhepunkt, also in einer Zeit, als der Blick zurück in die eigene Geschichte eine in der Nachkriegszeit unbekannte Dimension erreichte. Die kaiserzeitlich orientierte Möblierung und Gestaltung des Kurfürstendammes waren Ausdruck dieser Neubewertung im Westen; die Realisierung des pseudomittelalterlichen Nikolaiviertels und die Teilrealisierung des Umbaus der Friedrichstraße zu einer multifunktionalen Korridorstraße zeigten die Neuorientierung im Osten. Gerade die Planung der Friedrichstraße verweist auf die neue Zuwendung zur historischen City und damit die Förderung einer Westwanderung der City aus Ost-Berliner Perspektive. Der Fall der Mauer stoppte diese Entwicklung auf halbem Wege.

Anders als in Ost-Berlin wurde diese Ära historisch orientierten Zentrumsumbaus in West-Berlin rasch wieder in Frage gestellt. Seit 1988 jagten sich die Projekte für "Bürotels" und andere Imaginationen, die in Form von Hochhäusern die schlappe West-City beglücken wollten. Damit wurde hauptsächlich aus Architekturkreisen die überholte Konzeption des modernistischen Hyperzentralismus in ästhetisch verfeinertem Gewande wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Diese Projekte für die West-Berliner City bekamen nach dem Fall der Mauer Rückenwind, verloren aber zugleich an öffentlicher Aufmerksamkeit.

1.4. Das Ringen um ein neues Zentrum Gesamt-Berlins

Nach dem Fall der Mauer stand wiederum - wie schon 1871, 1918, 1945 - die Frage im Raum: Was soll aus Berlin werden? Anders als die von Zweifeln geplagten Fachleute gegen Ende der vierziger Jahre waren Planer und Politiker unmittelbar nach der Wende grenzenlos zuversichtlich. Nunmehr schien Berlin endgültig seine Rolle gefunden zu haben - als "Bindeglied zwischen West und Ost". "Berlin", so die beiden Teil-Berliner Interimsbürgermeister Walter Momper und Tino Schwierzina 1990, "befindet sich in einer einmaligen Situation. Wir liegen nicht mehr am Rande des Westens oder gar da drüben im Osten, sondern wir liegen mitten im Herzen Europas. Das eröffnet uns Chancen vielfältiger Art. Denn das geistige, politische und kulturelle Geschehen in Europa wird sich allmählich weiter nach Osten verschieben. Die Staaten Osteuropas sind wieder auf dem Wege nach Europa. Das heißt nicht Abschied nehmen von der Westorientierung, sondern vielmehr geistige und kulturelle Bereicherung. Es heißt, die beiden Hälften unseres Kontinents wieder zusammenzufügen." Und weiter: "Berlin sieht sich im Reigen der europäischen Metropolen Seite an Seite mit Städten wie Rom, Paris, Madrid, London, Moskau oder Budapest. Wir befinden uns in einem friedlichen Wettstreit um die Zukunftsmodelle für Großstädte unseres Ranges." (S. 6)

Zunächst mußte sich die wiedervereinigte Stadt allerdings auf eine Aufholjagd begeben, deren Verlauf vorhersehbar zu sein schien. "Berlin", so Hanno Klein, der später durch eine Briefbombe ermordete Leiter einer Arbeitsgruppe (Stabsstelle) für private Investitionen in Berlin, "wird sich zu einer 'Metropolregion' und zu einem europäischen Zentrum für Dienstleistungen (was Kultur und Wissenschaften impliziert), für Handel und Verkehr entwickeln. Diese noch nicht strukturierte Region wird ihre Rolle zunächst als das Schlüssel- und Innovationsgebiet für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation der ehemalilgen DDR aufnehmen. Die nächsten Stufen werden sein: Ausbau der Region, vergleichbar der Ausstrahlung und Kraft des schwäbischen Raumes oder des Ruhrgebietes mit der Perspektive, zur ersten europäischen Garnitur wie Paris, London, Brüssel, Rhein/Main aufzusteigen. [...] Eine neue Gründerzeit also! Ja, jedoch sozialer, ökologischer, intelligenter!" (1991, S. 11) Wachstum, Wachstum, Wachstum - das war die Botschaft dieser Monate für das wiedervereinigte Berlin! Und nahezu alle ließen sich von dieser Spekulation anstecken. "Die Prognosen verdichten sich zu einem Bedarf von Büroflächen von ca. 6 Mio [qm] Bruttogeschoßfläche und dem 2-3fachen dieser Fläche für alle übrigen Bereiche. Und dieses für die nächsten 10-15 Jahre." (S. 12) Hanno Klein verwies weiter auf eine Studie, die - seiner Meinung nach "viel zu vorsichtig" - von 800.000 bis 1,6 Mio Menschen Zuwachs bis 2010 spricht. Das bedeutet "400.000 bis 800.000 Wohneinheiten, die neu geschaffen werden müssen", darunter "überproportional" viele "qualitativ sehr hochwertige Wohnungen" (ebd.). Damit war ein spekulatives Zahlenwerk in die Welt gesetzt, das die Berliner Zentrumsplanung fortan in die Irre leiten sollte.

Mit diesen Erwartungen begann die Suche nach dem Zentrum Berlins von neuem, auch die Suche nach dem zentralen Punkt des Zentrums. "Wo soll man die Mitte suchen in diesem unüberschaubaren Gitterwerk von Straßen [...]? Gibt es kein Zentrum, wo ist der Halt?" (Der Spiegel 17/1991, S. 50) "Das Zentrum, die Mitte, ist leer, wenn auch übersät mit historischen Trümmern." (Der Spiegel 18/1991, S. 148) Beim Umbau des Berliner Zentrums gab es auf "westlicher" Seite keine routinisierten Erfahrungen, die Erfahrungen "östlicher" Fachkollegen und Institutionen waren entwertet. Berlin steht seit der Vereinigung der Stadt vor der Notwendigkeit, sozusagen aus dem Nichts städtebauliche Leitbilder, Instrumente und Verfahren zur Erneuerung des Zentrums zu erarbeiten.

Gerade für die Fixierung des zentralen Punktes des Zentrums bot sich zunächst ein Vorgang an, dessen Geschichte bereits vor dem Fall der Mauer begonnen hatte, ein Vorgang, der die Gemüter der Stadt bewegte und das öffentliche Interesse zentralisierte: die Neugestaltung des mythischen, leergeräumten Potsdamer Platzes. Ohne eine Konzeption für die künftige Struktur des Zentrums wurde der Potsdamer Platz für eine kurze Zeit zum imaginären zentralen Punkt der Stadt, zum Symbol des neuen Berlin nach 1989, zum Gegenstand aber auch isolierter Planung, übermäßiger Verdichtung und ängstlicher Hast.

Tatsächlich wurden die großen Schlachten um die Art und Weise des Berliner Zentrumsumbaus erstmals und stellvertretend am Potsdamer Platz geschlagen und - aus der Sicht einer ausgewogenen Zentrumsentwicklung - letztlich verloren. Dabei handelte es sich um Schlachten zwischen den großen Konzernen und dem Land Berlin, Schlachten innerhalb des Senats, zwischen Senat und Fachwelt, zwischen und innerhalb der politischen Parteien, innerhalb der Fachwelt, innerhalb der veröffentlichten Meinung. Kein städtebauliches Vorhaben des Zentrumsumbaus hat seither solche Streitenergien mobilisiert. Als Niederlage war zuallererst die gesteigerte bauliche Dichte zu werten, die den Konzernen zugestanden wurde, dann das Mißverhältnis zwischen Büromassen und wenigen Wohnungen, weiter die Wiederauferstehung der autogerechten Stadt, die in dem heiß umkämpften Autotunnel ihren programmatischen Ausdruck fand, aber auch im Poker um ungeheure Stellplatzzahlen, schließlich der umstrittene Kaufpreis des Baugeländes sowie die Form des Wettbewerbsverfahrens. Zugleich spitzte sich der Richtungsstreit zwischen dem Modell der "europäischen Stadt" und dem der "US-amerikanischen Stadt", zwischen "konservativen" und "modernen" Positionen zu. Jenseits solcher Dichotomien verwies Dieter Hoffmann-Axthelm darauf, daß beide Optionen, von Daimler Benz wie von Sony, auf ein stadtunverträgliches Konzept hinausliefen: auf die "Stadt in der Stadt". Dieses Konzept hatte eine Voraussetzung, die als Grundfehler der gesamten Geschichte betrachtet werden muß: die Übertragung des Baus ganzer Stadtteile an private Großinvestoren.

Schon am 3. April 1991 konnte Wolf Jobst Siedler schreiben: "Die Misere des gegenwärtigen Herangehens an die Probleme von heute und morgen besteht darin, daß sich die Planenden, Politiker wie Architekten, vor allem über die architektonische Gestalt des Neuen Gedanken machen, weshalb überall Konkurrenzen und Wettbewerbe stattfinden oder angekündigt werden. Nirgendwo ist zu sehen, daß man sich über die Funktionen der beiden konkurrierenden Stadtzentren, der alten Stadtmitte und des neuen Westens Gedanken gemacht hat [...]." Aber Siedler ging es auch nur um einen Ausschnitt des Zentrums, um den Boulevard Unter den Linden. Immerhin: Der Tanz um den Potsdamer Platz war ein Zeichen einer mentalen Ostwanderung der City - aus West-Berliner Perspektive betrachtet. Am Potsdamer Platz sollte sich das Symbol des westlichen Berlins verdoppeln: der Mercedes-Stern. Jetzt fehlte nur noch der Stern über dem Alexanderplatz.

Rudolf Stegers faßte die Kritik der fehlgeleiteten Geschichte des Projektes Potsdamer Platz mit folgenden Worten zusammen: "Es ist zu voll und es ist zu viel. Wer Kapitalismuskritik statt Architekturkritik treibt, fühlt sich ohnehin bestätigt. [...] Mit der viel beschworenen Public Private Partnership [...] hat Berlin bis heute kein Glück. Das Spiel zwischen Kommune und Kapital endet fast immer Null zu Eins. Schuld daran tragen vor allem CDU und SPD. Absurd ist ja, daß der Senat von außen genötigt werden muß, seine Grundstücke teurer zu verkaufen. Absurd ist ja, daß der Senat trotz aller Warnung vor dem 'Gedränge des Gebauten' die Bruttogeschoßfläche auf dem Daimler-Benz-Areal von 264000 auf 340000 Quadratmeter steigert. Absurd ist ja, daß der Senat mit frischem Asphalt weitere Autos ins Zentrum lockt, wo das Fahrzeug bald Stehzeug wird. Die Zähigkeit und Heftigkeit beim Hickhack um Tunnelmünder und Straßenbreiten untermauert die Dringlichkeit der Sache." (Vierter Teil, 1992)

Inzwischen ist die Entwicklung längst über den Potsdamer Platz hinweggegangen. Das zeigen die vielen städtebaulichen Ideenwettbewerbe, die sich langsam gen Osten bis zum Alexanderplatz vorgetastet haben, das zeigen die relativ konsolidierten Pläne für die Ansiedlung von Bundeseinrichtungen in der Hauptstadt Berlin, das zeigt auch der Streit um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses. Im Mittelpunkt des privaten Investoreninteresses steht allerdings wieder der historische Kernbereich der Berliner Geschäftsstadt, die Dorotheen-/Friedrichstadt.

Doch die städtebaulichen Verhältnisse im gesamten Zentrum haben sich gegenüber der Zeit vor dem Weltkrieg drastisch verändert. Die historischen Fernbahnhöfe sind verschwunden, übriggeblieben ist nur der Fernbahnhof Friedrichstraße, aber auch die zahlreichen, der komplexen Gitterstruktur des Stadtgrundrisses angemessenen U- und S-Bahnhöfe. Die Altstadt ist abgeräumt - und mit ihr die Strukturen, die einen Widerspruch zwischen westlichem und östlichem Teilzentrum ermöglicht haben. Verschwunden ist auch das Stadtschloß der Hohenzollern, das von mancher Seite heute als Mitte und Herz des Zentrums gehandelt wird. Die städtebaulich begründete strukturelle Zweitklassigkeit des östlichen Teilzentrums schien damit der Vergangenheit anzugehören. Nunmehr war eine relativ gleichwertige Citylage vom Potsdamer bis zum Alexanderplatz denkbar, die in Alt-Berlin und am Alexanderplatz allerdings durch das weitgehende Fehlen historischer Bauten und den modernen Stadtgrundriß etwas beeinträchtigt ist. Dazu kommt der grundlegende Gegensatz, der in neuer Form heute wieder vorhanden ist: Das westliche Zentrum grenzt an das "reiche", westliche Berlin, das östliche Zentrum bleibt der Anlauf- und Drehpunkt des weniger reichen Berliner Ostens. Dieser sozialräumliche Gegensatz reflektiert aber heute nicht nur Einkommen und Lebensstile einer Gesellschaft, sondern weit mehr - nämlich unterschiedliche Lebenserfahrungen in zwei deutschen Staaten.

In die Fußstapfen der abgeräumten Altstadt trat langsam, aber sicher ein anderer Stadtteil: die unmittelbar nördlich an das Zentrum grenzende Spandauer Vorstadt/Königstadt. Die Spandauer Vorstadt/Königstadt ist heute der letzte größere Stadtteil des Zentrums, dessen Parzellen- und Gebäudestruktur zum Teil noch auf die Zeit des Absolutismus zurückgeht. Die Spandauer Vorstadt/Königstadt ist sozusagen die Altstadt von morgen, mit zum Teil engeren Gassen, kleinen Häusern und Parzellen, einfachen Bewohnern und kleinen gewerblichen und kulturellen Initiativen. Früher durch große militärische und andere staatliche Anlagen vom südlich gelegenen Zentrum abgeschottet, ist die Spandauer Vorstadt/Königstadt heute stadträumlich deutlich weniger geschützt. Hier droht eine Wiederholung dessen, was in der Kaiserzeit der Altstadt widerfuhr: eine schroffe Differenzierung der Lagen, von einigen neuen City-Brückenköpfen bis hin zu verfallenden Gebieten und Stadtbrachen.

Dorotheen-/Friedrichstadt, ehemalige Altstadt, Westcity in Charlottenburg, Spandauer Vorstadt/Königstadt - das künftige Berliner Zentrum wird unterschiedliche Funktionsbündel, Bedeutungen, Räume, Bauten und Gesichter erhalten. Dazu kommt ein abermaliger Versuch, im Westen des historischen Zentrums mit dem neuen Zentralbahnhof, dem Parlaments- und Regierungsschwerpunkt am Spreebogen und dem Raum Potsdamer Platz einen weiteren - fünften - zentralen Bereich zu festigen, der allerdings durch die Weite des Tiergartens in zwei Teilbereiche zerfällt. Welche städtebaulichen Aufgaben stellen sich bei diesem Prozeß der Neubildung des Zentrums? Oder besser: Wie kann dieser durch sehr unterschiedliche, mehr neben- und gegeneinander als miteinander arbeitende Akteure vorangetriebene Prozeß überhaupt durch die öffentliche Hand steuernd beeinflußt werden?

Eine bundesweit beachtete Antwort auf den erwarteten Wachstumsschub hat die Architekturausstellung "Berlin morgen" zu geben versucht, die bereits 1991 zuerst in Frankfurt am Main und dann im Berliner Martin-Gropius-Bau präsentiert wurde. Es ist das große Verdienst der Ausstellung, schon damals die isolierte Betrachtung des Potsdamer Platzes aufgebrochen zu haben.

In dieser Ausstellung verdeutlichten internationale Architektenstars ihre mit heißer Nadel gestrickten Projekte zum Zentrumsumbau von Berlin. Dabei wurde, so Rudolf Stegers noch wohlwollend, "das genuin Baukünstlerische bevorzugt, das genuin Stadtplanerische mißachtet" (1992b, S. 42). Zur Überwindung der Tendenz in Richtung Hyperzentralisierung vor allem in der Dorotheen-/Friedrichstadt und an deren Rande hat die Ausstellung keinen Beitrag geliefert. Im Gegenteil: Es scheint geradezu, als habe kaum jemand den historischen Vorzug eines nicht- zentralistischen Zentrumsgrundrisses überhaupt wahrgenommen. Die Ausstellung präsentierte einige Lösungen, die auf die Heraushebung repräsentativer, hyperzentraler Achsen zielen - ganz im Sinne der verfehlten Konzepte der städtebaulichen Moderne und des daran anknüpfenden sozialistischen Städtebaus. Das zeigt sich etwa an dem Vorschlag von Coop Himmelblau für die Leipziger Straße. Auch die noch problematischere Tradition der Markierung zentraler Punkte des Zentrums wurde unter anderem in dem Vorschlag von Hans Kollhoff für den Potsdamer und den Alexanderplatz fortgeführt. Allzuschnell wurde an die imaginären Orte des historischen Berliner Zentrums angeknüpft, der Widerspruch zwischen Imagination und Realität und der Vorzug der dezentralen Realität gegenüber der Imagination wurde ignoriert.

Die Frankfurter Ausstellung war eine Architekturausstellung und daher den komplexen städtebaulichen Problemen der Berliner Zentrumsbildung wenig angemessen. In Berlin wurde die durch Nicht-Berliner Architekten bestimmte Ausstellung "Berlin morgen" mit einer durch Berliner Architekten geprägten Ausstellung "Berlin heute" konfrontiert. Gegenstand dieser Ausstellung war eine faszinierende Idee - die Ringstadt. Diese an Überlegungen der Arbeitsgruppe für Stadtplanung (AGS) anknüpfende, auf einer Klausurtagung in Berlin und im Bauhaus Dessau im Herbst 1990 herangereifte Idee markierte einen Höhepunkt des schöpferischen Nachdenkens über Berlins Zentrumsstruktur nach der "Wende".

"Dem Konzept der 'Ringstadt' liegt die Idee zugrunde, durch intensive Nutzung exzellent erschlossener Flächen am Innenstadtrand den Bedarfsdruck nach Dienstleistungsflächen, Wohnungen und Infrastruktureinrichtungen vom Zentrum abzulenken, ohne ihn allerdings an den Stadtrand bzw. ins Umland zu verdrängen. [...] Damit wird auch gedanklich der Schritt von den Citys zweier - im Vergleich mit anderen Metropolen sehr provinzieller - Teilstädte zum Zentrum eines der größten Ballungsräume Europas vollzogen." (Klaus Bonnet, Mitarbeiter der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, 1991, S. 15) Und wieder wurde Berlin mit anderen Metropolen verglichen - diesmal mit Paris, London und New York. Als Entwicklungsschwerpunkte der "Ringstadt" galten "ehemalige Güterbahnhöfe bzw. Versorgungsflächen, die weiter aus der Stadt ausgelagert werden müssen: Schöneberger Kreuz, Tempelhofer Feld, Treptow/Sonnenallee, Ostkreuz, Leninallee/Storkower Straße, Bornholmer Straße/Gesundbrunnen, Westhafen, Jungfernheide/Fürstenbrunn, Westkreuz, Halensee, Hohenzollerndamm, Innsbrucker Platz." (Bonnet 1991, S. 16)

Die Ringstadtidee sollte - allerdings unter expliziter Mißachtung des Berliner Umlandes - die polyzentrale Struktur Berlins stärken, das historische Zentrum vom Überdruck entlasten und eine Entwicklung untergenutzter Flächen einleiten, die am Rande der Innenstadt liegen und durch den Schienenverkehr optimal erschlossen sind. Sie spiegelte zugleich ein zentrales Dilemma dieser Monate wider: die maßlose Überschätzung der künftigen Nachfrage nach Cityflächen.

Ein Beispiel dieser Wachstumseuphorie war die Vorschlagsvariante D für die Entwicklung des Westkreuzes, die Hans Kollhoff in der Ausstellung vorstellte: Eine Kette von bis zu 190 m hohen Gebäuden sollte eine Bruttogeschoßfläche von ca. 4,8 Mio. qm neu auf den Markt werfen. Bei diesem Vorschlag zeigt sich bereits die Vorliebe Kollhoffs für die Kombination von Hochhäusern mit der Berliner Traufhöhe: "Dabei wird die Berliner Traufhöhe als Sockelkante zurückgestaffelter Türme interpretiert [...]." (Kollhoff 1991, S. 79) Allerdings kann die Ringstadtidee keineswegs nur mit solchen Vorschlägen gleichgesetzt werden. Sie bündelte ein breites Spektrum unterschiedlicher Strategien - von der Hochhausvision Kollhoffs bis zu Vorschlägen für "korrigierendes Weiterbauen und behutsame Stadtreparatur" (Atelier Strecker mit Dieter Hoffmann-Axthelm und PUB Planungsgruppe Urbane Baukunst).

Während die Doppelausstellung "Berlin morgen und heute" noch Furore machte, kristallisierten sich die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse heraus, die den realen Zentrumsumbau wirklich zu beeinflussen begannen. Die Einrichtung des Stadtforums wie der Stelle eines Senatsbaudirektors im ersten Halbjahr 1991 waren Meilensteine dieser Entwicklung. Die Gleichzeitigkeit von Investorenhandeln, Einflußnahme der Bundesregierung, Unklarheiten bzw. Unstimmigkeiten über ein städtebauliches Regelwerk, die planerische Umsetzung dieses Regelwerkes und die Zuständigkeiten seitens der involvierten, intern weder organisatorisch noch konzeptionell auf die neuen Problemlagen vorbereiteten Senatsverwaltungen prägten seitdem einen Prozeß des Zentrumsumbaus, der in Deutschland einzigartig ist. Der teilweisen funktionalen Leere des Zentrums als Folge der Abwicklung der zentralen wie lokalen DDR-Institutionen entsprach eine Umwälzung der Eigentumsverhältnisse, die in diesem Umfang ohne Beispiel ist und bisher allenfalls als Folge kommunistischer Machtaneignung, nicht aber der kapitalistischen "Reconquista" erfahrbar war.

Etwas im Schatten der spektakulären Projekte im alten Zentrum Berlins wurde auch die City in Charlottenburg Gegenstand neuer Planungen. Wenngleich langfristig ein relativer Bedeutungsverlust dieses Teilzentrums zu vermuten ist, so wird doch dessen Bedeutung absolut zunehmen. Kurzfristig ist der Vorteil klar: Weder ungeklärte Eigentumsverhältnisse, unzureichende stadttechnische Infrastruktur noch ein unwirtliches Umfeld belasten die Projekte im Westteil der Stadt. Selbst die Verwaltung ist besser eingespielt - wenn auch auf Bezirksebene hochfliegenden Plänen eher abgeneigt. Die Existenz von bezirklichen "City-Leitlinien" (vgl. Bezirksamt Charlottenburg 1992) für das Charlottenburger, nicht aber für das historische Zentrum unterstreichen diese ungleichen Verhältnisse.

Die Gewichte nicht nur zwischen dem historischen und dem Charlottenburger Zentrum, sondern innerhalb der gesamten Berliner Zentrenstruktur werden neu verteilt. Die vorhandenen Subzentren in West-Berlin werden nur durch erhebliche Anstrengungen ihre Bedeutung behalten können. Ein Beispiel für solche Aktivitäten sind die Versuche des Bezirksamtes Steglitz, die Schloßstraße aufzuwerten. In Ost-Berlin müssen Subzentren zum Teil erst aufgebaut werden. Ganz in der Tradition der polyzentralen Struktur der Stadt steht das große Projekt einer tertiären "Ringstadt" im Bereich der Kreuzungspunkte des S-Bahnrings. Daß all diese Einzelprojekte faktisch in einem Zusammenhang stehen, ist zwar offensichtlich, wird aber in der Praxis zuwenig berücksichtigt.

Das Schlüsselprojekt der gesamten Neuordnung der Zentrenstruktur Berlins ist aber zweifellos der Umbau des alten Zentrums der Stadt zwischen Potsdamer Platz und Alexanderplatz. Dieser Prozeß des Umbaus samt seiner Vorbereitung läßt sich bislang in drei große Phasen teilen:

  • in eine erste Phase der "neuen Unübersichtlichkeit", des "Interregnum", der Zeit "zwischen dem Mauerfall und dem Ausgang des städtebaulichen Ideenwettbewerbs Potsdamer Platz", eine "Phase des Übergangs vom rot-grünen Senat zur großen Koalition und von der Doppelherrschaft von Senat und Magistrat hin zur vereinigten Senatsverwaltung" (Sewing 1994, S. 63f.), eine Zeit, die mit der Institutionalisierung des Senatsbaudirektors und des Stadtforums zu Ende ging;
  • in eine zweite, überschäumende Spekulationsphase, in der sich nahezu alle Akteure relativ irrational von einem im kollektiven Rausch herbeigeredeten gewaltigen Wachstumsschub betören ließen, eine Zeit spekulativen Fiebers, das sich nach dem Hauptstadtbeschluß "Vollendung der Einheit Deutschlands" vom 20. Juni 1991 verallgemeinerte, und
  • in eine dritte Phase der Ernüchterung, in der statt Wachstum eine Überproduktion von Büro-, Einzelhandels- und Luxuswohnungsflächen absehbar wurde, einer Ernüchterung, die nach dem Scheitern der Olympiabewerbung Berlins für das Jahr 2000 am 23. September 1993 schon depressive Züge annahm.

Die Planungspolitik für das Zentrum konsolidierte sich in der zweiten Phase, während sie große Schwierigkeiten hatte und hat, den Erfordernissen der dritten Phase, der Jahre der Ernüchterung, gerecht zu werden.

1.4.1. Akteure des Zentrumsumbaus

Der Umwälzungsprozeß im historischen Zentrum hat die eigentlichen Protagonisten des Zentrumsumbaus erzeugt: die Großeigentümer bzw. Entwickler privater sowie - seit dem Hauptstadtbeschluß - öffentlicher Provenienz (der Bund als Rechtsnachfolger der DDR - Liegenschaftsverwaltung der Oberfinanzdirektion). Diese neuen Hauptakteure waren nicht durch das Feuer der Auseinandersetzungen um eine neue Kultur des Städtebaus gegangen, das West- Berlin in den siebziger und achtziger Jahren geprägt hat. Vermittelt wurde die Herausbildung neuer privater Akteure durch eine gewichtige Institution, deren Praxis sich weitgehend der öffentlichen Aufmerksamkeit entzog: die Liegenschaftsgesellschaft der Treuhandanstalt mbH (TLG). Die Aufgabe dieser Anfang 1991 gegründeten Gesellschaft, die zu privatisierenden Immobilien aus ehemaligem DDR-Eigentum maximal zu verwerten, mußte immer wieder mit den potentiellen Interessen der Stadt an einer bestandsentwicklungspolitisch sinnvollen Vergabepraxis in Kollision geraten. Außer der TLG gab es eine weitere Institution, die in großem Umfang Immobilienverkäufe im Zentrum vermittelte: die Jewish Claim Conference, der alle Grundstücke zufielen, die vormals im jüdischen Besitz waren, bei denen aber heute keine Erben mehr vorhanden oder bekannt sind.

Neben dem Bund sind weitere öffentliche Institutionen mit Sitz im Zentrum aktiv - etwa die Humboldt-Universität und die staatlichen Museen. Die baulichen Konzepte dieser Institutionen sind noch nicht ausgereift und müssen - als "sektorale" Teilkonzepte - erst in ein Gesamtkonzept abwägend eingebunden werden. Insgesamt fehlt eine aktive, die Teilkonzepte vernetzende Standortplanung aller involvierten öffentlichen Institutionen. Das gilt auch für den Berliner Senat selbst. Die immer wieder unklare Nutzung des Berliner Stadthauses, des ehemals "zweiten Rathauses" der Stadt und Sitz der bauenden und planenden Verwaltungen unter Ludwig Hoffmann und Martin Wagner, ist ein Beispiel für diese Unsicherheit.

Als bislang unbekannte Figur im Berliner Immobiliengeschäft ist die bedeutsamste Gruppe privater Investoren anzusehen: die großen Entwicklungsgesellschaften, unter denen sich aber nur wenige internationaler Provenienz befinden. Diese Gesellschaften operieren als "Pioniere" in Berlin, sie "entwickeln" nicht für eigene Zwecke, sondern für andere - für künftige Käufer oder Mieter. Ihr Verhältnis zum Projekt ist daher distanziert, ohne besonderen Bezug zum konkreten Ort und zur konkreten Nutzung. Zur finanziellen Absicherung wurden inzwischen in erheblichem Umfang institutionelle Anleger in die konkreten Bauprojekte einbezogen. Damit verbunden war eine neuerliche Veränderung der Eigentumsverhältnisse im historischen Zentrum, die vor allem seit 1994 zum Tragen kam.

Die neuen Akteure treffen auf eine Fraktion von Architekten, die die Baukultur der achtziger Jahre als Fessel ihrer Kreativität begreifen: Verantwortungsvoller Umgang mit dem überkommenen baulichen wie städtebaulichen Bestand, Weiterbau des Bestandes, öffentliche Auseinandersetzung mit Andersdenkenden - diese Elemente einer neuen Kultur sind verblaßt, verdrängt oder schlicht nicht bekannt. Die Selbstverständlichkeit, wie die Abrißbirne als Instrument zur Durchsetzung der eigenen Architekturvorstellung wieder in den Köpfen in Bewegung gesetzt wird, ist frappierend.

Die Fachwelt hat sich in diesem Prozeß stärker differenziert. Die Kluft zwischen (Teilen von) Architekten und Stadtplanern wird wieder größer.

Das Gewicht von Architekten darf nicht unterschätzt werden: Nach der Phase der Positionskämpfe spielen sie im Prozeß der Umsetzung eine wichtige Rolle. Diese Diva-Rolle hat - anders etwa als in Hamburg - in (West-)Berlin durchaus Tradition: Die neobarocke Vorstellung, durch Architekten mit "internationalem Renomee" die Städtebaupolitik zu vergolden, wurde im kalten Krieg mit der Interbau 1957 erstmals in breitem Maße durchexerziert und im Rahmen der Internationalen Bauausstellung 1984/87 mit neuen Vorstellungen fortgeführt. Wenn man bei städtebaulichen wie baulichen Wettbewerben im Zentrum die Preisgerichtsmitglieder wie die Wettbewerbsgewinner betrachtet, so finden sich einige Architekten, die ganz offensichtlich eine Schlüsselrolle spielen. Dazu gehören Josef Paul Kleihues und Hans Kollhoff, aber auch von Gerkan, Marg + Partner, Heinz Hilmer/Christoph Sattler, Oswald Mathias Ungers, Jürgen Sawade und Peter Schweger.

Während eine einflußreiche Gruppe von Architekten nach der Eigentumsumwälzung im Zentrum zusammen mit privaten Investoren oder für die Bundesregierung einzelprojektbezogen arbeitet und dementsprechend auch eher isoliert denkt, entwirft und argumentiert, bildet sich vor allem unter Stadtplanern eine Sichtweise heraus, die Einzelprojekte im Berliner Zentrum in größerem Zusammenhang wahrnimmt und diskutiert. Diese Formierung erfolgt allerdings weniger im Rahmen unabhängiger disziplinärer Institutionen wie etwa in Fachverbänden oder an Universitäten, sondern im Rahmen einer Institution, die vom Senator für Stadtentwicklung und Umweltschutz angesichts eigener, notwendiger Unsicherheit und begrenzter Konzeptionsfähigkeit eingerichtet worden ist: im Rahmen des regelmäßig tagenden Stadtforums. Dieses Forum hat einerseits die Selbstverständigung über Notwendigkeiten angemessenen Zentrumsumbaus innerhalb der beteiligten Stadtplaner gefördert, aber andererseits auch die begrenzte Rolle der Stadtplanung im Erneuerungsprozeß verdeutlicht. Planer können sich in abhängigem Rahmen artikulieren, dieser Rahmen begrenzt zugleich ihre Kritikfähigkeit, ihre Stimme ist notwendigerweise nur beratend, aber der Rat hat wenig Gewicht, wenn die Beratenen - vor allem der Senator - den Druck der Hauptakteure zu spüren bekommen. Insbesondere in den zentralen Fragen der Art und Weise der "Nutzungsmischung", der Baudichte sowie der Verfahren selbst bleiben Stadtplaner oft eine klar erkennbare und vernehmbare fachpolitische Position schuldig.

Angesichts der neuen Interessenkonstellation sieht sich die Stadt Berlin oder genauer: das Land Berlin in eine defensive Position gedrängt. Darüber hinaus ist es in seiner Strategie aufgesplittert: Die zuständigen Ressorts für Bau- und Wohnungswesen, Stadtentwicklung und Umweltschutz sowie Verkehr und Betriebe kommunizieren konkurrierend miteinander - zusätzlich angespornt durch inner- wie zwischenparteiliche Widersprüche. Zugleich sind die klassischen Akteure der West-Berliner Stadterneuerung im Zentrum nur wenig präsent bzw. ohne Gewicht: die Bezirke und die organisierten Betroffenen. Der Verein "Stadtzentrum Berlin" hat allerdings im November 1992 "Grundsätze zur Hauptstadtplanung" im Sinne eines behutsamen Zentrumsumbaus vorgelegt. Auch der - partiell entmachtete - Bezirk äußert sich bei jeder möglichen Gelegenheit. Sein zentrales Anliegen ist die Berücksichtigung der Wohnverhältnisse der Bürger von "Mitte", das heißt auch Einsatz für Freiflächen und Verkehrsberuhigung bzw. -reduzierung.

Vor diesem Hintergrund wird die immer wieder kritisierte Undurchsichtigkeit des Erneuerungsgeschehens im Berliner Zentrum verständlich: Der Senat war im Rahmen seiner inneren Widersprüche erst dabei, eine Konzeption und Strategie für das Zentrum zu erarbeiten, während interessierte Akteure bereits handelten und Voraussetzungen schufen, die jede vielleicht einmal ressortübergreifend gefundene Konzeption und Strategie erheblich belasten können. Nun ist es allerdings unangemessen, den Akteuren allein die Verantwortung für problematische Entwicklungen aufzubürden. Solange der Berliner Senat kein politisch abgestimmtes, verbindliches städtebauliches Regelwerk für das Berliner Zentrum vorzuweisen hat, ist jeder private Investor gezwungen, sich dem Windhundrennen in freier Wildbahn anzuschließen. Anders ist das Verhältnis zwischen Senat und Bundesregierung. Angesichts der potentiellen oder eingebildeten Labilität des Umzugsbeschlusses war der Spielraum "Berlins" gegenüber "Bonn" von vorneherein eingeschränkt, der Druck zur Übernahme stadtunverträglicher Bonner Wünsche oder Diktate groß.

Trotz aller Widrigkeiten sind die Bemühungen des Berliner Senats nicht geringzuschätzen, dem neuen Aufgabenfeld "Zentrumsumbau" gerecht zu werden. Dies gilt in konzeptioneller, instrumenteller und institutioneller Hinsicht.

1.4.2. Städtebauliches Regelwerk

In der konzeptionellen Vorbereitung eines städtebaulichen Regelwerks für das Berliner Zentrum wurden durchaus unkonventionelle Wege beschritten. So wurden anhand konkreter Projekte im Stadtforum (seit April 1991) wie in der Architekturwerkstatt der Senatsbauverwaltung (seit Februar 1992) städtebauliche Prinzipien (nicht nur für das Zentrum) erarbeitet. Dazu kamen Gutachten, die entweder explizit zur Leitbildproduktion beitragen sollten oder die am Beispiel konkreter Projekte bzw. Teilgebiete die Diskussion um ein Regelwerk beförderten. Zu nennen wären hier insbesondere die Gutachten von Dieter Hoffmann-Axthelm und Bernhard Strecker ("Pariser Platz - Kritische Rekonstruktion des Bereichs", publiziert September 1991; "Bahnhof Friedrichstraße - Städtebauliches Strukturkonzept", publiziert Januar 1992; "Spittelmarkt - Kritische Rekonstruktion des Bereichs", publiziert April 1992; "Städtebaulicher Strukturplan: Kritische Rekonstruktion des Bereichs: Friedrichswerder, Friedrichstadt, Dorotheenstadt", publiziert August 1992), die Untersuchungen der Arbeitsgemeinschaft Spreeinsel ("Städtebauliches Leitbild 'Spreeinsel'" vom Juni 1992) und die "Vorbereitenden Untersuchungen" zur Hauptstadtplanung des Büros für Stadtplanung und Stadtforschung Dortmund-Berlin (Zwischenbericht: Barnickel u.a. August 1992 bzw. Endbericht: Büro für Städtebau und Stadtforschung u.a. 1993).

Im Jahr 1992 konsolidierten sich Ansätze eines städtebaulichen Regelwerks, die sich bereits vorher im Streit um die Gestaltung des Areals am Potsdamer Platz durchgesetzt hatten. Einen neuen Höhepunkt erreichte die Auseinandersetzung erst wieder 1994/95, als sich der Streit um die bauliche Gestaltung des Pariser Platzes zuspitzte. Dagegen blieben die klassischen Instrumente der Berliner Stadtplanung, die Bereichsentwicklungsplanung ("Grundlagen für die Bereichsentwicklungsplanung - Arbeitsbericht Bezirk Mitte" vom Juli 1991) sowie der Flächennutzungsplan (wirksam seit Juli 1994) und dessen Vorbereitungswerke (Räumliches Strukturkonzept vom Februar 1992) hinsichtlich der Leitbildfindung notwendigerweise relativ blaß.

Während ein Regelwerk für das Berliner Zentrum auf seiten der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz eher jeweils ortsspezifische und in Einzelfällen sehr "offene" Konturen zeigte, war die Senatsbauverwaltung insbesondere durch die Grundsatzposition des Senatsbaudirektors Hans Stimmann einem möglichen Gesamtregelwerk für das Zentrum näher - dem Regelwerk der "kritischen Rekonstruktion der Stadt". Dieses ursprünglich auf eine städtebautheoretische Position von Josef Paul Kleihues zurückgehende Regelwerk wurde durch Gutachten unter maßgeblicher Beteiligung von Dieter Hoffmann-Axthelm vorbereitet, bislang allerdings nicht in angemessener Form dem Feuer der öffentlichen Debatte ausgesetzt.

Das Regelwerk der kritischen Rekonstruktion orientiert sich am "Modell der europäischen Stadt" jenseits der Konzeption der städtebaulichen Moderne und plädiert für eine neue Wertschätzung von "Haus, Block, Straße und Platz". Zentrales Element dieser Sichtweise ist die Wiederentdeckung der städtebaulichen Bedeutung der Parzelle - eine Position, die Projekten, die einen ganzen Block oder sogar blockübergreifend angelegt sind, kritisch gegenübersteht. Ein Regelwerk hat die räumlichen und funktionalen Besonderheiten einzelner Stadtteile zu beachten, ja an diesen Besonderheiten anzusetzen und diese - falls sinnvoll - weiterzuentwickeln. Wichtigste architektonische Aufgabe ist die zeitgemäße Konzeption eines "Geschäftshauses" mit Wohnanteil. Die Bewältigung dieser Aufgabe erfordert heute eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik "Berlinische Architektur", die erst in den Anfängen steckt. Angesichts dieser Aufgaben wird deutlich, daß ein Regelwerk nicht nur gestalterische Aspekte im engeren Sinne umfassen muß, sondern auch Aspekte der Nutzung. Insbesondere die sozialen und ökologischen Wirkungen von Großprojekten müssen untersucht und berücksichtigt werden. Gerade hinsichtlich der erwünschten sozialen und Nutzungsmischung muß sich der "kritische" Charakter der "Rekonstruktion" erweisen.

1.4.3. Städtebaulicher Ideenwettbewerb

Das spektakuläre, planerisch aber letztlich unverbindliche Instrument "städtebaulicher Ideenwettbewerb" war mit Ansprüchen überfrachtet: Es sollte sowohl der Leitbildfindung wie der Leitbildumsetzung dienen. Als öffentlichkeitswirksames Instrument verdeutlichte der städtebauliche Ideenwettbewerb einem breiteren Publikum das mögliche Regelwerk und - in Grenzen - dessen Konsequenzen, verbreiterte und polarisierte damit zugleich die Diskussion. Wenig transparent erschien allerdings die politische Vorbereitung solcher Wettbewerbe: Die Wahl des Preisgerichts und - gegebenenfalls - der aufgeforderten Architektengruppen blieb genauso im Dunkel wie die Bedingungen, die in den Auslobungsbroschüren formuliert waren. Während die Ergebnisse die Öffentlichkeit erregten, fand die Weiterarbeit an diesen Ergebnissen wieder unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Die im engeren Sinne Beteiligten - neben den Senatsverwaltungen etwa die Investoren bzw. der Bund, aber auch der Bezirk Mitte - wurden in die Verfahren eingebunden: Sie saßen mit in der Jury, sie wurden bei der Auswahl der Preisrichter wie - gegebenenfalls - der aufgeforderten Architektengruppen beteiligt. So setzte sich der Bezirk Mitte etwa für die Berücksichtigung auch Ost-Berliner Architekten ein. Verschlissen wurden im Zuge der Wettbewerbe nur allzuoft die beteiligten Architekten, die in eine Rolle gedrängt waren, die sie qua Wettbewerbsteilnehmer an einem isolierten Projekt gar nicht angemessen wahrnehmen konnten: die Rolle desjenigen, der die Bedingungen des Wettbewerbs weitgehend selbst bestimmt, eine Rolle, die eigentlich der Politik zukommt, die sich des planerischen Sachverstands vergewissert hat.

Gegenstand solcher in der Kompetenz der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz liegenden städtebaulichen Ideenwettbewerbe waren bislang im Bereich des historischen Zentrums der Potsdamer/Leipziger Platz (1991), die Leipziger Straße (1992), der Bahnhofsbereich Friedrichstraße (1992/93), der Spreebogen (1992/93), der Alexanderplatz (1993) und die "Spreeinsel" (1994). Diese Wettbewerbe wurden in höchst unterschiedlicher Weise vorbereitet und durchgeführt - etwa hinsichtlich der vorgeschalteten Tragfähigkeitsuntersuchungen, der Vorgaben und des Verfahrens selbst. Belastend wirkten sich vor allem die in den Vorgaben ermöglichten bzw. nicht ausdrücklich ausgeschlossenen überzogenen Baudichten für private Vorhaben im Kernbereich der City aus.

1.4.4. Umsetzung privater Projekte

Parallel zur Leitbildfindung wurde - unter dem Druck der Akteure - bereits an der Umsetzung des noch nicht ausgereiften Regelwerkes gearbeitet. Die Arbeit an der Umsetzung erfolgte - was die privaten Zentrumsprojekte betrifft - zumeist im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Nur für einige Projekte wurden Wettbewerbe durchgeführt, und auch bei diesen Projekten war wieder nur der Wettbewerb selbst, nicht aber das Vorfeld und die Überarbeitungsphase ein Gegenstand öffentlichen Interesses. Die Rolle der öffentlichen Hand bestand vor allem in der Durchsetzung einiger grober, aber wichtiger städtebaulicher Regeln, die im rechtlichen Rahmen des § 34 des Baugesetzbuchs ausgehandelt wurden. Faustpfand der öffentlichen Hand bei solchen Verhandlungen war oft die Verfügung über Grundstücke, die von den Investoren benötigt wurden.

Eine gewichtige, einzelne Senatsverwaltungen übergreifende Institution zur Vorbereitung privater Projekte war der Koordinationsausschuß für innerstädtische Investitionen (KOAI). Dieser Ausschuß - ein Zusammenschluß öffentlicher Institutionen unter Einschluß der Liegenschaftsverwaltung der Oberfinanzdirektion und der Liegenschaftsgesellschaft der Treuhandanstalt - entschied über die Vergabe von öffentlichen Grundstücken an private Investoren - unbeschadet der noch zu klärenden konkreten Besitzansprüche der jeweiligen Institution. Die Vergabe war mit Bedingungen verknüpft. Die Geschäftsführung des Ausschussses lag bei der Senatsbauverwaltung, der Vorsitz bei der Wirtschaftsverwaltung. Als Entscheidungsträger beteiligt waren ferner die Stadtentwicklungsverwaltung sowie der zuständige Bezirk. Der Ausschuß hat inzwischen keine Bedeutung mehr, da die meisten Grundstücke vergeben sind.

Verhandlungsgegenstand waren - auf der Grundlage der Bauordnung und des Baugesetzbuches - insbesondere der Erhalt von historischen Gebäuden, die Einhaltung von Trauf- (22 Meter) und Gebäudehöhen (30 Meter), die Berücksichtigung der Quote von 20 Prozent Wohnnutzung sowie die Beachtung der Blockstruktur bei Neubauten. Insofern wurde auf dieser zentralen Ebene das Prinzip der "kritischen Rekonstruktion der Stadt" in grober Form wirksam. Mit solchen "Vorgaben" war notwendigerweise auch eine gewisse Begrenzung der möglichen Geschoßflächenzahl verbunden, deren Höhe bei den geplanten Investorenprojekten in der Regel um 5,0 lag.

Diese quasi abgeleitete, nicht bewußt gesetzte Begrenzung der Baudichte muß allerdings als deutlich zu hoch angesehen werden: Sie gefährdet die tradionelle, weiter zu entwickelnde Polyzentralität der Stadt ebenso wie die beschworene "Mischung" des Zentrums selbst, vor allem aber die Stabilisierung der dortigen Wohnfunktion. Die bei Neubauten zu berücksichtigende Quote von 20 Porzent Wohnfläche war sicher ein Gewinn, darf aber nicht überschätzt werden. Durch die erforderliche "freie" Finanzierung der Neubauwohnungen wird zwar eine magere "Nutzungsmischung" erreicht, die zumindest ebenso wichtige "soziale Mischung" aber verfehlt: Die gleiche soziale Schicht wird in dem Gebäude oder Block wohnen, arbeiten und sich vergnügen bzw. speisen. Zugleich bleibt das faktisch sich ergebende Konzept des Zentrumswohnens zu hinterfragen: Wohnen auf dem Dach von Bürohäusern oder zwischen diese eingeklemmt - ist das eine Lebenswelt, die langfristig Bestand haben wird?

Die städtebaulich wichtigsten privaten Projekte in der Umsetzungsphase waren bzw. sind (nicht mehr oder immer noch) der Potsdamer/Leipziger Platz, die "FriedrichstadtPassagen", das "American Business Center" am Checkpoint Charlie, die Neuformung des Spittelmarkts, die Neugestaltung der beiden prominenten Ecken Leipziger/Friedrichstraße und Unter den Linden/Friedrichstraße, das Projekt Hotel "Adlon" und andere Gebäude am Pariser Platz, das Projekt Mehringplatz sowie der "Tachelesblock". Dazu kommt eine Reihe von Projekten in der Zimmerstraße, von denen das "Mosse-Zentrum" am bekanntesten ist. Zur Vorbereitung eines großen Teils dieser städtebaulichen Schlüsselprojekte wurden Realisierungswettbewerbe durchgeführt.

1.4.5. Umsetzung der Hauptstadtprojekte

Der konflikt- und windungsreiche Prozeß der Verortung von hauptstädtischen Parlaments- und Regierungsfunktionen im Berliner Zentrum hat zur Festlegung von drei Schwerpunkträumen geführt: erstens der Spreeinsel mit dem Friedrichswerder, zweitens der Kreuzung Wilhelm- /Leipziger Straße und drittens - diese beiden Standorte an Ausdehnung und politischer Bedeutung weit überragend - des Spreebogens am Reichstag auf West-Berliner Gebiet. Der Planungsprozeß war durch städtebauliche Ideenwettbewerbe (für den Spreebogen und die "Spreeinsel") begleitet worden. Mit dem zentralen, symbolträchtigen und -stiftenden Standort Spreebogen wird nicht nur eine in der späten Kaiserzeit begründete Tradition der geplanten Westwanderung von Staatsfunktionen zu einem Abschluß gebracht, sondern zugleich der gesamte Schwerpunkt des Berliner Zentrums deutlich weiter nach Westen gerückt. Verstärkt wird diese Verschiebung durch die Großprojekte Potsdamer Platz und Zentralbahnhof.

Als Vorläufer der Hauptstadtplanung ist der 1. Bericht des Arbeitsstabes vom Oktober 1990 zu nennen (Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz u.a. 1990). Im August 1992 wurde der "Zwischenbericht" der "Vorbereitenden Untersuchungen - Parlaments- und Regierungsviertel Berlin" veröffentlicht, im Februar 1993 der Endbericht abgeschlossen. Am 4. Juli 1993 wurde mit dem Inkrafttreten der förmlichen Festlegung von zwei Entwicklungsbereichen und drei Anpassungsgebieten auf der Grundlage des Baugesetzbuches die zweite Stufe der Hauptstadtverortung eingeläutet. Die Ausweisung von Anpassungsgebieten sollte Verdrängungsprozesse erschweren. Betroffen waren in den Gebieten etwa 6.000 Mieter und 500 Gewerbetreibende.

Für die Planung und Durchführung der Bauten im Spreebogen gründete das Bundesbauministerium eine Bundesbaugesellschaft mbH, mit dem Erwerb der für die Ministerien noch notwendigen Liegenschaften wurde die Oberfinanzdirektion betraut. Für alle übrigen Leistungen in den Entwicklungsbereichen und Anpassungsgebieten ist ein Entwicklungsträger zuständig, soweit diese nicht von privater Seite erbracht werden. Dieser Entwicklungsträger (DSK/Deutsche Stadtentwicklungsgesellschaft mbH) wurde nach § 167 Abs. 3 des Baugesetzbuches eingesetzt und wird durch das Hauptstadtreferat der Senatsbauverwaltung gesteuert. Im Rahmen der Umsetzung der Hauptstadtverortung sollen Bebauungspläne erarbeitet werden.

Die Hauptstadtplanung ist das einzige feinkörnige förmliche Planungsinstrument, das strategisch im Rahmen des Zentrumsumbaus Anwendung findet. Sie ist zugleich das Medium der Abstimmung von "Berliner" und "Bonner" Interessen. Darin liegt auch ein grundsätzliches Problem: Durch die Beschränkung auf eine Funktion - die Hauptstadtplanung - wird in planerischer Hinsicht eine einseitige Entwicklung gefördert, da eine entsprechende differenzierte Bestandsaufnahme und Berücksichtigung anderer Funktionen unterbleibt. "Schwache" Funktionen wie etwa "Wissenschaft" und "Wohnen" können bei einem solchen Verfahren trotz aller Bemühungen der Verwaltung nicht gleichrangig Berücksichtigung finden.

Im Schatten der folgenschweren Hauptstadtplanung stehen einige kleinere Projekte von Institutionen der öffentlichen Hand im Berliner Zentrum - so etwa die Neugestaltung des Lustgartens und die Weiterentwicklung der Museumsinsel, für die im Jahre 1994 Wettbewerbe abgeschlossen wurden.

1.4.6. Verkehrsplanung

Die Verkehrsplanung mit den projektierten Straßenum- und Straßenneubauten, Brücken- und Tunnelbauten ist eine Schlüsselaufgabe des Zentrumsumbaus. Sie verdeutlicht eine entscheidende ökologische Dimension, ist ein Gradmesser für qualitative wie quantitative Prognose- und Programmfähigkeit und bildet eine Voraussetzung für die Konzeption von privaten Einzelprojekten wie der Hauptstadtverortung. Sie ist zugleich ein wichtiges Instrument zur Wahrung oder Störung der Struktur des Zentrums ohne zentralen Punkt.

Der herausragenden Bedeutung der Verkehrsplanung entspricht allerdings keine gleichrangige Programmfindung, -abstimmung und -umsetzung. Tatsächlich ist die Verkehrsplanung der Hauptstreitpunkt unter den Verwaltungen überhaupt, vor allem innerhalb der Berliner Verwaltungen (insbesondere zwischen der Senatsbauverwaltung und der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz auf der einen und der Senatsverwaltung für Verkehr und Betriebe auf der anderen Seite) sowie zwischen dem Bund und Berlin. Trotz des Verbalkonsenses über eine Quote von 80 Prozent öffentlichem und 20 Prozent privatem Verkehr sowie über die Notwendigkeit der Ausschaltung von Durchgangsverkehr im Zentrum sind der Umfang des künftig zuzulassenden privaten Kraftfahrzeugverkehrs und dessen Verteilung im Straßennetz des Zentrums immer wieder Gegenstand des Streites.

Wichtige Konfliktpunkte waren bzw. sind im Bereich der Dorotheen-/Friedrichstadt die Clara- Zetkin-Straße ("normale" Straße oder für die Belange des Bundestages reserviert), Friedrichstraße (Breite der Straße, mit oder ohne Straßenbahn), Unter den Linden (stadträumliche Gestaltung, Zahl und Aufteilung der Fahrspuren, Art der Umfahrung oder Untertunnelung des Brandenburger Tores), Leipziger Straße (Breite des Profils, Zahl der Fahrspuren, Anlage einer Straßenbahn), Durchbruch durch die ehemaligen Ministergärten (ja oder nein). Im Zuge der Auseinandersetzungen um die Leipziger Straße sind die Ergebnisse des 1992 durchgeführten Wettbewerbes für den Bereich östlich der Charlottenstraße inzwischen "zurückgestellt" worden. Der Streit um den Rückbau der völlig überdimensionierten Straßen im Bereich der "Altstadt" hat - vor allem im Kontext der städtebaulichen Ideenwettbewerbe "Alexanderplatz" und "Spreeinsel" - erst begonnen.

Neben dem fließenden wird auch der ruhende Verkehr das Zentrum erheblich belasten. Hier haben die noch am Leitbild der autogerechten Stadt orientierten Stellplatzvorschriften eine wichtige, störende Rolle gespielt. Sie hat das Interesse privater Investoren, Stellflächen in großem Umfange zu bauen, verstärkt. Mit der begrüßenswerten Vorbereitung einer neuen Stellplatzhöchstzahlverordnung versucht die Senatsbauverwaltung, in dieser Schlüsselfrage eine programmatische Neuorientierung durchzusetzen.

Zum Streit zwischen den Verwaltungen kam noch die Kritik der traditionell wortstarken Verkehrsinitiativen an Lösungen, die im Berliner Senat nicht mehr strittig sind bzw. zu sein scheinen. Dazu zählen vor allem die Nord-Süd-Tunnelprojekte im Bereich Potsdamer Platz/Spreebogen sowie die Priorisierung der U-Bahnplanung gegenüber der Straßenbahnplanung.

Neben der Frage eines zentrumsverträglichen privaten Kfz-Verkehrs ist auch die Frage einer zentrumsverträglichen Lösung des schienengebundenen Massenverkehrs Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung. Eine besondere Aufmerksamkeit richtet sich aber auf die Neuorganisation des Eisenbahnverkehrs. Hier gibt es Konflikte zwischen Bürgerinitiativen und der öffentlichen Hand, aber auch zwischen Senatsverwaltungen und der Deutschen Bahn.

Im Juni 1992 einigten sich die Bundesregierung und der Berliner Senat auf das "Pilzkonzept" als Großstruktur des Berliner Eisenbahnnetzes. Dieses Konzept stellt eine Mischung aus dem überkommenen Ringsystem und einer neuen Nord-Süd-Durchquerung mit verschiedenen Fernbahnhöfen dar - so in Lichtenberg (bereits vorhanden), am Gesundbrunnen, im Bereich des Lehrter Bahnhofs, an der Papestraße und in Spandau (noch zu entwickeln). Der bedeutendste dieser Bahnhöfe wird der Lehrter Bahnhof sein, an dem sich zwei ICE-Strecken kreuzen sollen. Jenseits der Frage eines "Zentralbahnhofes" an der Lehrter Straße war auch die geplante Sanierung der historischen Viaduktstrecke im Zentrum zugunsten von Hochgeschwindigkeitszügen heftig umstritten.

Ein neuer Zentralbahnhof würde die Zentrumsstruktur Berlins erheblich beeinflussen: Zusammen mit dem Parlaments- und Regierungsviertel Spreebogen und dem neuen Quartier am Potsdamer Platz hätte er eine massive Westverschiebung des Zentrums zur Folge. Das hätte nicht nur Auswirkungen auf Moabit, oder genauer: auf die Zukunft eines sich abzeichnenden Subcitybandes "Nord" entlang der Spree zwischen Lehrter Bahnhof und Mierendorffplatz. Kaum wahrgenommen und diskutiert werden die großräumigen Implikationen, vor allem die Vernetzung des neuen zentralen Quartiers mit den übrigen Zentren: bliebe doch der Superbahnhof aufgrund der stadträumlichen Barrieren in Richtung Südwesten, Süden und Südosten relativ isoliert. Damit würde eine äußerst problematische Tradition des Berliner Städtebaus auf neuem Niveau fortgeführt.

1.4.7. Unsicherheiten jenseits der Euphorie

Der Umbau des Zentrums von Berlin seit 1989 - so bleibt zusammenzufassen - ist von einer beispiellosen Unsicherheit gekennzeichnet. Unsicher ist die künftige Rolle der Stadt im Konzert der europäischen Großstädte, unsicher ist der mittel- und langfristige Bedarf an Büro- und Einzelhandelsflächen, unsicher ist die künftige Hierarchie der Teilzentren und damit die gesamte polyzentrische Struktur der Stadt, unsicher ist die Qualität jedes einzelnen Standortes, unsicher bleibt die künftige Ordnung des Verkehrs, die ihrerseits die Standortqualitäten beeinflußt. Die beiden wichtigsten Akteursgruppen - staatliche Institutionen und private Immobilienentwicklungsgesellschaften - sind angesichts dieser Verhältnisse orientierungslos.

Die privaten Investoren tappen buchstäblich im Dunkeln - infolge der Ungewißheit über die künftige Standorthierarchie und die künftige Nutzungsstruktur des Zentrums. Sie klammern sich an Orte mit bedeutendem, bekanntem Namen, mit bedeutender Geschichte. Die Unsicherheit der Investoren drückt sich in einer kaum mehr übersehbaren Flut von Standortstudien aus, in Versuchen also, die unscharfen Lagen in eindeutige Standorte zu verwandeln. Der Bund als Investor ist prinzipiell in der gleichen Situation, obwohl er ja durch die ihm mit dem Vereinigungsvertrag zugefallenen Immobilien standortmäßig gebunden ist. Die Unsicherheit über angemessene Standorte ist hier noch offensichtlicher. Erinnert sei nur an die planerische Standortodyssee des Bundesaußenministers.

Die Orientierungslosigkeit in der komplexen Leere des historischen Zentrums von Berlin bewegt aber auch noch andere Akteure, gesellschaftliche Initiativen und Parteien. Bekanntes Beispiel westlich dominierter Sehnsucht nach einer klaren Orientierung ist der Ruf nach dem verschwundenen Schloß, dem die Mehrheit der Ost-Berliner weiterhin hartnäckig ihre Stellungnahme für den Palast der Republik entgegensetzt. Zu verweisen ist weiter auf den Versuch, wenigstens mit Straßen- und Platznamen eine nostalgische Orientierung zu erleichtern, mit Namen, die an Sozialräume erinnern, die nicht mehr wiederherstellbar sind: Wilhelmstraße, Dorotheenstraße, Schloßplatz.

Auf die verbreitete Unsicherheit antwortete vor allem die Senatsbauverwaltung mit der Schnellproduktion eines doppelten Leitbildes: der "kritischen Rekonstruktion der Stadt" und der "Berlinischen Architektur". Beide Leitbilder wurden nicht in einem stadtweiten Streit erarbeitet, sondern durch Gutachten oder Tagungen skizziert und dann von oben verkündet. Entsprechend schwach waren diese Leitbilder - sie waren nicht durch einen politischen Beschluß des Senats legitimiert, und sie wurden in der Fachöffentlichkeit und in der veröffentlichten Meinung massiv attackiert. Kurz: Sie hatten keine ausreichende Legitimation.

Erschwert wurde die Leitbildfindung noch dadurch, daß sich die Vorstellung von der Stadt der Zukunft in einem elementaren Umbruch befindet, einem Prozeß, der einen etwa sechzigjährigen stabilen soziokulturellen Wertungsrahmen der Stadt der "Moderne" zersetzt, ohne daß das neue Bild schon entsprechend klare Konturen angenommen hat. Wichtig ist weiterhin, daß die Schnellproduktion der Leitbilder ausschließlich aus westlichen Denktraditionen gespeist wurde, DDR-Erfahrungen ausklammerte und DDR-Fachleute ausschloß.

Doch nicht die Leitbilder an sich, sondern erst ihre Umsetzung verspricht, allen Unsicherheiten ein Ende zu bereiten. Damit ist eine weitere Gruppe von Akteuren gefordert: die Architekten. Ihre in Gutachterverfahren, Wettbewerben oder Verhandlungen entstandenen Bilder des künftigen Zentrums suggerieren eine Sicherheit, auf die viele hereinfallen, sie tragen zugleich mit dazu bei, das Bild der aufstrebenden Metropole Berlin in der Welt zu verbreiten. Der Prozeß, der nach der Bildproduktion kommt, bleibt außerhalb des Wahrnehmungsfeldes der Öffentlichkeit. Und die Eintönigkeit, die die versprochenen Funktionen hinter den gezeichneten Fassaden erwarten lassen, verbirgt sich hinter dem bunten Glanz der Bilder. Tatsächlich werden ja vor allem Büroräume geplant, Büroräume für fremde, noch nicht bekannte Nutzer, Büroräume mit hohem Standard, aber im wesentlichen gleicher Art, vom Potsdamer bis zum Alexanderplatz, garniert mit Cafés, einigen Luxuswohnungen und schicken Läden.