6. Der Kampf um ein Leitbild für das Zentrum von Berlin

Bald sechs Jahre nach dem Fall der Mauer läßt sich langsam erahnen, wie das zukünftige Zentrum Berlins aussehen wird, wer es besitzen, bestimmen, nutzen wird. Auf dem Papier jedenfalls ist das offiziell erwünschte Bild zu bewundern, in Modellen sind die Dimensionen der Neubauten zu erkennen. Der Weg zu diesen Modellen war mit Konflikten gepflastert, die bis heute weiterschwelen. Von welchen Leitbildern haben sich die Verantwortlichen führen lassen? Wer nach solchen Orientierungen sucht, wird schnell fündig: Zu unterscheiden sind vor allem zwei "Leitbilder" - ein städtebauliches, die "kritische Rekonstruktion der Stadt", und ein bauliches, die "Berlinische Architektur".

6.1. Kritische Rekonstruktion der Stadt?

Der Zusammenbruch der DDR hat nicht nur zu einem funktionalen Vakuum in weiten Bereichen des alten Zentrums von Berlin geführt, er hatte auch ein planerisches Vakuum zur Folge: Die DDR- Planung wurde außer Kraft gesetzt, und eine neue Planung war nicht sofort verfügbar. Was tun - angesichts des großen Investorenandrangs nach der Hauptstadtentscheidung für Berlin? Die Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen ließ sich ein städtebauliches "Regelwerk" erarbeiten, das dem baulichen Wildwuchs Einhalt gebieten sollte: das Leitbild der "kritischen Rekonstruktion des Stadt". Dieses "Regelwerk", eine Art Kompendium einzuhaltender städtebaulicher Grundsätze, sollte angesichts fehlender Planwerke durch eine Selbstbindung von Politik und Verwaltung eine relative Verbindlichkeit erhalten und bei den Verhandlungen mit privaten Investoren die zu beachtenden Rahmenbedingungen fixieren.

Die wesentlichen Prinzipien eines solchen Regelwerks waren bereits am 4. April 1990 als "Charta für die Mitte von Berlin" vorgelegt worden. Die Verfasser dieser Charta bildeten eine kleine Gruppe engagierter Fachleute aus Ost und West um Dieter Hoffmann-Axthelm, an der auch Bruno Flierl mitwirkte: die Gruppe 9. Dezember.

Gegenstand des Regelwerks war zunächst die historische City - die regelmäßigen barocken Stadterweiterungen der Dorotheen- und Friedrichstadt. Als Autoren fungierten die ehemaligen Kreuzberger Protagonisten Dieter Hoffmann-Axthelm und Bernhard Strecker, die - anknüpfend an einen Begriff und ein vorrangig gestalterisches Konzept von Josef Paul Kleihues, des früheren Direktors der West-Berliner Internationalen Bauausstellung (Neubaubereich) - für den Pariser Platz, den Bereich um den Bahnhof Friedrichstraße, den Spittelmarkt und schließlich für den gesamten Bereich der Dorotheen-/Friedrichstadt und des Friedrichswerder 1992 eine städtebauliche Konzeption im Auftrag der Senatsbauverwaltung entwickelten.

Was bedeutet aber "kritische Rekonstruktion des Stadt"? Im Vordergrund stand die Orientierung jeder weiteren Zentrumsentwicklung am alten Straßennetz vor 1945, an den
historischen Baufluchten und damit an der typischen, im Laufe der Jahrhunderte sich verdichtenden Blockstruktur. Die Blöcke wurden zweidimensional als Zusammenfassung von privaten Parzellen betrachtet, dreidimensional als Resultat der Bauordnungen der Kaiserzeit - mit einer maximalen Traufhöhe von 22 Metern. Darin erschöpfte sich das Leitbild der "kritischen Rekonstruktion" in seiner Anfangsphase aber noch keineswegs. Es zielte auch auf eine Anknüpfung an frühere Nutzungsstrukturen - etwa an das Universitätsviertel, das Medienviertel usw. Und diese Anknüpfungsversuche sollten nicht am Schreibtisch erfolgen, sondern zusammen mit den Nutzern vor Ort - allerdings mit klar ausgesprochener Distanz und Skepsis seitens der Autoren des Regelwerks gegenüber den "unter DDR-Bedingungen implantierten Menschen" (Strecker/Hoffmann-Axthelm 1992c, S. 32).

Ein solches Regelwerk war ein "West-Berliner" Leitbild, wenngleich sich in den achtziger Jahren auch in Ost-Berlin eine Rückorientierung auf die historische Stadt angekündigt hatte. Es hatte die Erfahrungen der Internationalen Bauausstellung als Hintergrund - im Bereich Altbau wie Neubau -, Erfahrungen, die mit den Ost-Berliner Projekten des Nikolaiviertels, der Otto-Grotewohl-Straße und der Friedrichstraße nur begrenzte Gemeinsamkeiten aufwiesen. Immerhin schien es im Kontext allgemeiner Unsicherheiten einen Weg zu weisen, der auch in kritischen Fachkreisen des Westteils der Stadt Anerkennung fand. Es korrespondierte im übrigen mit einem positiv besetzten "europäischen Stadtmodell" und dessen Elementen "Haus, Block, Straße, Platz", einem Modell, das vor allem in der Auseinandersetzung um die Gestaltung des Potsdamer Platzes erstmals eine große Rolle spielte.

Konzeptionell war die "kritische Rekonstruktion" also durchaus ein richtungsweisender Ansatz. Sie verdeutlichte, daß angesichts fehlender Plangrundlagen eine Orientierung gefunden werden mußte; sie leistete zugleich einen Beitrag, den Streit um die weitere Entwicklung zu strukturieren; sie gab keine deterministischen Lösungen vor, sondern ermöglichte eine Auseinandersetzung im Detail; sie grenzte den DDR-Städtebau nicht von vornherein aus; sie sperrte sich nicht dem Einbezug aktueller städtebaulicher und architektonischer Themen; sie vernetzte gestalterische und funktionale Aspekte; und sie ermöglichte einen ost-west-übergreifenden Dialog. Kurz: sie war flexibel, komplex und undogmatisch.

Im Rückblick stellt sich das Leitbild "kritische Rekonstruktion der Stadt" allerdings etwas widersprüchlicher dar, als Ausdruck von Widersprüchen, die im Konzept angelegt waren, mit diesem aber nicht notwendig verhaftet sind. Oder mit anderen Worten: das Konzept versprach zunächst Flexibilität, die bald einer Dogmatisierung weichen mußte.

Tatsächlich waren ja die Dorotheen- und Friedrichstadt ein guter Ausgangspunkt, um das Leitbild zu entfalten und zu erläutern. Dieser historische Citybereich war in seiner städtebaulichen Grundstruktur noch weitgehend erhalten, in der DDR-Zeit wurde er - trotz mancher grundrißverändernder Planungen - partiell respektiert (Unter den Linden und Platz der Akademie) und nur im östlichen Bereich der Leipziger Straße und an der Otto-Grotewohl-Straße weitgehend negiert. Das im August 1992 publizierte Gutachten "Städtebaulicher Strukturplan - Kritische Rekonstruktion des Bereichs: Friedrichswerder, Friedrichstadt, Dorotheenstadt" von Dieter Hoffmann-Axthelm und Bernhard Strecker schlug vor, den überkommenen Stadtgrundriß nicht anzustasten und die Veränderungen der DDR-Zeit im Bereich der östlichen Leipziger Straße wieder möglichst zurückzunehmen.

Dieses Gutachten wäre eine gute Diskussionsgrundlage gewesen. Leider war es aber nicht der Ausgangspunkt einer Diskussion, sondern schon ihr Ende. Nach diesem Gutachten wurde das Konzept vergröbert und dogmatisiert. Dabei spielten folgende Punkte eine Rolle:

  • Der DDR-Städtebau wurde a priori als Störung der Stadt betrachtet; allein deren Form vor 1945 schien heilig. Deutlich wurde das zuerst an der östlichen Leipziger Straße. Obwohl diese Sechziger- Jahre-Neuauflage der Stalinallee eine geschlossene städtebauliche Figur darstellte und die Forderung nach Mischung der Funktionen besser als viele westliche Zentrumsstraßen erfüllte, wurde ein Bruch mit dieser Figur anvisiert. Da damit auch eine Reduktion der Fahrbahnen und so des Kraftfahrzeugverkehrs verbunden war, schien ein solcher Rückbau auf den ersten Blick wünschenswert. Die weitere Entwicklung hat aber gezeigt, daß der programmierte Rückbau der Leipziger Straße ein Verständnis von kritischer Rekonstruktion verfestigte, das als Orientierung allein die Verhältnisse vor 1945 duldete. Die kulturelle Diskriminierung der Leipziger Straße läutete eine Phase der pauschalen Mißachtung des "modernen" DDR-Städtebaus ein, die im konzeptionellen Abrißrausch am Alexanderplatz und Marx-Engels-Platz ihren Höhepunkt fand. Um kein Mißverständnis zu erzeugen: Ein Rückbau von Fahrstraßen nicht nur in der Leipziger Straße, sondern im gesamten Zentrum ist kurz- bis mittelfristig unerläßlich, doch ein solcher Rückbau erfordert keineswegs zwingend Neubauten auf dem jetzigen Straßengelände.
  • In der Praxis wurde das Konzept des Blocks als Zusammenfassung von privaten Parzellen nicht weiter verfolgt. Das wieder ins Recht gesetzte Privateigentum wurde nicht zum Gegenstand innovativer stadtpolitischer Gestaltungskraft. An Großinvestoren wurden teilweise ganze Blöcke vergeben - zum einen wollten das die Investoren, zum anderen erleichterte das der öffentlichen Hand die Arbeit. Ein Denken in Parzellen, so die These, wäre anachronistisch, der heutigen Immobilienwirtschaft nicht angemessen. Eines ist aber gewiß: In anderen Großstädten müssen sich die Investoren auch mit den verfügbaren, das heißt zumeist kleineren Flächen begnügen, und das Zentrum von Berlin wird in einer Art und Weise "zeitgemäß" sein wie kein anderes großstädtisches Zentrum in Europa - als Konglomerat von Großblöcken in jeweils einer einzigen Hand mit all den Problemen der Monotonie in Gestalt und Funktion. Die Versuche insbesondere von Josef Paul Kleihues, dieses Schlüsselproblem wenigstens gestalterisch durch eine Parzellensimulation mit architektonischen Mitteln ("Baukastenprinzip") zu entschärfen, sind sicher begrüßenswert, führen aber - falls keine eigentumsrechtliche Teilung folgt - bestenfalls zu einer gefälligeren Kulisse.
  • Die angestrebte kleinräumliche Differenzierung der Nutzung wurde faktisch aufgegeben. Wieder haben sich die Gesetze des Immobilienmarktes durchgesetzt: Die ersten Investoren haben nicht für sich, sondern für noch zu findende Nutzer gebaut. Entsprechend schematisch war ihr bauliches Konzept: hauptsächlich Büros des gehobenen Durchschnitts, garniert mit - hier griff das Grobkonzept des Regelwerks - "Cafés" oder anderen gastronomischen Einrichtungen und einigen wenigen Wohnungen (Zielvorgabe 20 Prozent). Damit wurde - nach der Aufgabe eines durch Parzellen differenzierten Blocktyps - auch eine an differenzierte Nutzer adressierte Architektur unmöglich. Ein Normmodell von "Tortenarchitektur" mußte das Ergebnis sein.
  • Durch die richtige, aber einseitige Betonung der Traufhöhe von 22 Metern plus (weniger vertretbaren) zwei weiteren zurückgesetzten Geschossen geriet das Bauen unter der Erde in eine unkontrollierte Grauzone. Warum sollte das Prinzip der kritischen Rekonstruktion nur oberhalb der Erde gelten? Jedenfalls wurde die Festsetzung einer das Höhlenwesen begrenzenden "unterirdischen Trauflinie" unterlassen. Folge dieses Versäumnisses waren gesamtstädtisch nicht akzeptable, überzogene bauliche Dichten, die den Interessen der Investoren entgegenkommen, ja Hochhäuser, die in die Erde versenkt werden. Eine weitere Nebenwirkung wurde erst 1994 richtig sichtbar: Eine die historischen Werte bei weitem übersteigende Dichte verstärkte treibhausmäßig das Bestreben, die überkommenen Altbauten abzureißen und durch lukrativere Neubauten mit weitaus höherer Geschoßflächenzahl zu ersetzen. Die absehbaren Abrißwünsche wurden auch nicht durch eine Satzung schon im Vorfeld gebremst. Schließlich gab es noch ein weiteres Problem: die Unzahl der Kfz-Stellplätze, die in den Tiefgeschossen verortet wurden. Diese großen, für das Auto reservierten Zentrumsflächen werden unverträglich viel Autoverkehr ins Zentrum saugen.
  • Damit ist ein weiterer Schwachpunkt benannt: das fehlende zukunftsweisende Verkehrskonzept. Dies ist nicht so sehr der Bauverwaltung, sondern vor allem der Verkehrsverwaltung anzulasten. Das Zentrum einer europäischen Großstadt von morgen wird keinen Platz mehr für den normalen privaten Kfz-Verkehr von heute haben. Das Konzept der "kritischen Rekonstruktion" erlaubt eine solche Interpretation, ja legt sie nahe. Der Streit um den Verkehr in der Straße Unter den Linden, in der Leipziger Straße und zwischen diesen Hauptstraßen zeigt aber die Widersprüchlichkeit der Positionen im Senat selbst. Eine Folge dieser Widersprüchlichkeit ist das Einfrieren des geplanten Rückbaus der Leipziger Straße durch eine Neubauzeile. Damit ist ein zentrales Problem des Leitbildes angesprochen: Das Regelwerk ist nicht politisch abgestimmt, es wird nicht von einer breiten Mehrheit im Senat und Abgeordnetenhaus getragen, sondern spiegelt vor allem die Position eines Ressorts wider - der Senatsbauverwaltung.
  • Die politische Schwäche des Konzepts ist allerdings noch tiefgreifender. Es ist das Produkt eines Verwaltungsauftrags und wurde von der Verwaltung in seiner Komplexität reduziert und schematisiert. Das mag in den Handlungserfordernissen einer Administration begründet sein. Aber ein städtebauliches Leitbild für das Zentrum einer Großstadt läßt sich nicht durch einen Auftrag erstellen. Es setzt eine breite fachliche und öffentliche Debatte voraus, in der das Konzept zu bestehen hat und in der es sich festigt - wenngleich mit Modifikationen. Diese unumgängliche Debatte hat nicht stattgefunden. Dies ist um so gravierender, als es als "westliches" Konzept in einen Konsensprozeß mit Bürgern und Fachleuten des Ostteils der Stadt hätte einmünden müssen. Nun ist es sicher allzu einfach, wenn man die Schuld an diesen Versäumnissen allein der Stadtpolitik und Verwaltung in die Schuhe schiebt, denn auch die Verbände und vor allem die Universitäten haben ihre "Hausaufgaben" nicht gemacht.

Die eigentliche Krise des Konzepts offenbarte sich allerdings erst bei den Bauprojekten im Bereich des "alten" Berlin. Historisch war das Zentrum von Berlin immer und fundamental vom Gegensatz zwischen der eigentlichen City auf dem Boden der regelmäßigen barocken Stadterweiterungen und der "zurückgebliebenen" Altstadt auf dem Boden und im Umfeld der mittelalterlichen Doppelstadt Berlin-Cölln gekennzeichnet. Die Altstadt war seit Beginn der Kaiserzeit Gegenstand radikaler Umgestaltungsplanungen, die nur zum Teil verwirklicht wurden. Ziel war immer gewesen, die "rückständige" Altstadt strukturell der eigentlichen City im westlichen Teilzentrum anzupassen. In der DDR-Zeit wurde diese alte Sehnsucht auf durchaus eigenständige Weise im Geiste der sechziger Jahre materialisiert - wenn auch auf Kosten des alten westlichen Teilzentrums. Der große Freiraum zwischen Alexanderplatz und Marx-Engels-Platz ist der markanteste Ausdruck dieser DDR-Planung.

Was soll unter diesen komplizierten strukturellen Verhältnissen "kritische Rekonstruktion der (Alt- )Stadt" heißen? Etwa Orientierung an der Zeit vor 1871 oder vor 1914 oder vor 1945, Orientierung nur am realen Grundriß oder etwa an den Planungen eines Martin Wagners? Und was ist mit den Schöpfungen des DDR-Städtebaus? Die Unsicherheiten sind kolossal, die Hilflosigkeit gebiert Kahlschlagphantasien, die Legitimationen hinsichtlich des Umgangs mit dem Stadtgrundriß sind äußerst dürftig.

Deutlich wurde das vor allem am Alexanderplatz und auf der Spreeinsel. Für beide Orte wurden groß angelegte städtebauliche Ideenwettbewerbe ausgelobt - mit westlich dominiertem Programm, mit westlich dominiertem Preisgericht. Das Ergebnis war - hinsichtlich der Kultur des Städtebaus - niederschmetternd: Eine archaische Kahlschlagorientierung gegenüber den DDR-Bauten wurde prämiiert, eine nüchterne Auseinandersetzung mit den Bauten unterblieb, Fachleute aus dem Osten wurden ausgegrenzt, Bürger aus dem Osten nicht ernst genommen.

Eine Alternative zur Negation des DDR-Städtebaus im Bereich der ehemaligen Altstadt wurde bereits zu Beginn der neunziger Jahre im Auftrag der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz erarbeitet. Der im Juni 1992 veröffentlichte Vorschlag für ein städtebauliches Leitbild "Spreeinsel" der Arbeitsgemeinschaft Jahn,,Kny, Machleidt, Müller und Schäche stellt einen bemerkenswerten Beitrag zum Thema "kritische Rekonstruktion der Stadt" dar. Empfohlen wurde, an die historische Stadt anzuknüpfen, ohne die Zeugnisse der DDR in großem Maßstab abzuräumen. Dies galt auch für den Palast der Republik und das Staatsratsgebäude. Selbst der Freiraum zwischen Spree und Alexanderplatz sollte erhalten werden - wenn auch in seiner Breite verkleinert. Zweifellos gibt es an diesem Konzept aus heutiger Sicht auch Kritikpunkte - so etwa die schematische Nachverdichtung der Fischerinsel. Leider wurde aber auch dieser inzwischen "historische" Vorschlag nicht zum Gegenstand einer breiten öffentlichen Diskussion.

Heute scheinen die Weichen stadtpolitisch unwiderruflich gestellt zu sein. Trotzdem repräsentieren die Modelle des neuen Zentrums noch einen Papierstädtebau, der die ehemalige Altstadt im übrigen weitgehend ausspart. Und manches wird - so bleibt zu hoffen - nicht so kommen, wie es die Modelle verkünden. Dazu werden die regionalwirtschaftliche Situation beitragen, die Krise des Büroraummarktes, dann die Sparzwänge der öffentlichen Hand, natürlich auch die Wahlen in Berlin und nicht zuletzt der Protest der Fachleute und Bewohner. Daß im Zuge der zu erwartenden Revision der Pläne auch das Leitbild der "kritischen Rekonstruktion der Stadt" aufgegeben wird, wäre nicht unsere Option und Hoffnung. Das Berliner Zentrum braucht ein städtebauliches Regelwerk, das sich auf die vielfältigen Traditionen Berlins und der europäischen Stadt bezieht! Nicht die Aufgabe, sondern die Weiterentwicklung des Leitbildes wäre das richtige Ziel: möglichst weitgehende Einbindung auch des DDR-Städtebaus, offensive Orientierung auf einen Ost-West- Konsens, radikale Reduzierung des privaten Autoverkehrs sowie (dort, wo noch möglich) die Festsetzung einer "unterirdischen Traufhöhe" und die kleinräumige Differenzierung von Eigentums-, Nutzungs- und Sozialstruktur - das wären Essentials einer solchen Weiterentwicklung. Vielleicht wird im Zuge einer solchen Qualifizierung auch ein neuer Begriff gefunden, der die inzwischen etwas belastete "kritische Rekonstruktion der Stadt" ablöst bzw. in einem erweiterten Konzept aufhebt.

6.2. Berlinische Architektur?

Deutlich jünger als das städtebauliche Leitbild "kritische Rekonstruktion der Stadt" ist die Bestimmung eines architektonischen Leitbildes. Das hat seinen guten Grund: In der Hektik des Berliner Zentrumsumbaus galt es zunächst, einen städtebaulichen Rahmen zu setzen. Die Frage nach der baulichen Form folgte dann im Kielwasser der Bauprojekte. Daher grassiert erst seit 1993 ein neues, streitstiftendes Schlagwort in Berlin - die "Berlinische Architektur". Kaum ein Wort hat die Fachwelt nach 1989 derart in Wallung versetzt wie dieses. Voraussetzung dafür war seine Herkunft - aus den Büros der Senatsbauverwaltung, nicht aus den Salons der architekturtheoretischen Diskussion.

Das Nachdenken über Berlinische Architektur ist sicher keine gänzlich neue Erscheinung. Die Tradition einer solchen Reflexion ist aber weitgehend verschüttet, unterbrochen vor allem durch den Siegeszug der "modernen" Nachkriegsarchitektur. Wer kennt denn heute mehr als die Titel der berühmten Schriften der Architekturkritiker Karl Scheffler ("Berlin - Ein Stadtschicksal", 1910) und Werner Hegemann ("Das steinerne Berlin", 1930), aber auch von Arthur Moeller van den Bruck ("Der preußische Stil", 1916/1931), dem Vordenker der konservativen Revolution in der Weimarer Republik? Die Tradition des Nachdenkens über Berlinische Architektur ist methodisch wie inhaltlich keineswegs homogen, sondern sehr vielfältig. So zielen Karl Scheffler und Werner Hegemann eher auf eine Kritik der Berlinischen Architektur, während Arthur Moeller van den Bruck die Entdeckung eines vorbildhaften preußischen Stils behauptet. Allen Denkern von gestern ist aber eine relativ komplexe Argumentationsmethode eigentümlich: Architektur wird nicht aus ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang isoliert, sondern als Ausdruck dieses Zusammenhangs beschrieben. Berlin wird nicht nur als materieller Ort verstanden, sondern auch als Ort mit gesellschaftlichen Besonderheiten, die sich in der Architektur widerspiegeln, als Ort, der auch räumlich nicht isoliert werden darf, sondern einen größeren Raum, etwa Preußen, zumindest aber Potsdam mit thematisieren muß. Damit ist die historische Rolle Berlins als Kolonialstadt angesprochen.

Für die Architektur in Berlin und Potsdam während der Aufbauära des 18. Jahrhunderts war vor allem der Widerspruch zwischen den Bauprogrammen der Preußenkönige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. prägend: Den schlichten, in Reih und Glied aufgestellten Zweckbauten mit Soldatenstuben wurden die prächtigen, oft nach Architekturlehrbüchern kopierten Fassaden an Bauten, deren Zweckmäßigkeit dem schönen Schein untergeordnet wurde, entgegengesetzt. Beide Programme hatten eines gemeinsam: Sie waren von oben verordnet, Resultate eines Kommandos, mit Nachdruck oder Zuschüssen erzwungen. Anspruchslose Bescheidenheit und inszenierte Prächtigkeit, die sich später in der Kaiserzeit zur aufdringlichen Parvenühaftigkeit steigerte - in diesem Widerspruch entfalteten sich die Berliner Bautraditionen. Für die kultivierte Zwischenstufe, so etwa das Resümee von Karl Scheffler, blieb in der ständig überformten Stadt des Ostens nur wenig Raum. Berlin ist "so recht eine Hauptstadt der Halbbildung". Hier konnte sich keine bürgerliche Mittelklasse mit differenzierter Kulturtradition entfalten.

Anders als bei den Denkern der Vergangenheit ist das Konzept der "Berlinischen Architektur" heute das idealistische Produkt einer unzulässig vereinfachenden Methode, ein Kunstprodukt ohne solides Fundament. Präsentiert wird eine Perlenkette genialer Architekten, die für das Bauen in Berlin stehen sollen: etwa Friedrich Gilly, Karl Friedrich Schinkel, Alfred Messel, Peter Behrens, Ludwig Mies van der Rohe, Max Taut, dazu die heutigen Architekten Josef Paul Kleihues, Hans Kollhoff und Jürgen Sawade. Das bauliche Werk dieser Architekten wird mit einem Strauß wohlfeiler Adjektive geschmückt, die das Berlinische verdeutlichen sollen - so etwa sparsam, einfach, dauerhaft, nüchtern, zweckmäßig, spartanisch, karg und rational, unsentimental. Der gesellschaftliche Kontext des Wirkens dieser Architekten bleibt im Dunkeln - etwa die Tradition einer Kolonialstadt des Ostens, die Besonderheiten Preußens, die Eigenschaften der Herrscher und der herrschenden Kaste. Die unzulässige Methode führt dazu, daß zwei wichtige, Berlin prägende Gebäudetypen schlicht ausgeblendet werden: die Mietskaserne und der DDR-Plattenbau. Das "Steinerne" der Berliner Architektur gerinnt angesichts dieser Schwäche zum Glaubenssatz. Noch für Werner Hegemann war das "steinerne Berlin" kein erstrebenswertes Ziel, kein Problem der Architektur, geschweige denn ein Thema des Fassadenmaterials, sondern ein Ergebnis des verfehlten Berliner Städtebaus, ein Synonym für die verhaßte "größte Mietkasernenstadt der Welt". Die "Berlinische Architektur" heute ist ein Konzept der Verkündigung von oben, nicht eines breiten Konsenses, ein Konzept, das nicht durch das Feuer einer breiten Fachdebatte gegangen ist. Es ist im wesentlichen das Ergebnis einer einzigen Tagung, die von der Senatsbauverwaltung am 15. und 16. Juni 1993 unter dem Titel "Auf dem Wege zu einer Neuen Berlinischen Architektur?" im Rahmen der Berliner Bauwochen veranstaltet wurde. Der Titel, so Senatsbaudirektor Hans Stimmann, "hatte bewußt ein Fragezeichen" (1994a, S. 9). Die Ergebnisse dieser Tagung liegen als Publikation vor. Sie zeigen, daß von einem Konsens über das Konzept einer "Berlinischen Architektur" selbst auf dieser Tagung überhaupt nicht gesprochen werden kann. Dennoch wurde das Konzept nicht modifiziert, sondern als Leitbild verordnet. Aus dem Fragezeichen wurde ein Ausrufezeichen. Eine Kritik am Verkündigungskonzept richtet sich nicht nur an die Senatsbauverwaltung, sondern vor allem an die übrigen Institutionen dieser Stadt, die im Konzert der Leitbildfindung eine Rolle spielen müßten.

Das Konzept der "Berlinischen Architektur" heute ist ein westliches Konzept, das der wiedervereinigten Stadt nicht angemessen ist. Ost-Berlin, die ehemalige Hauptstadt der DDR, ihre Architektur und ihre Architekten kommen in diesem Konzept nicht vor, obwohl etwa das Programm der "kritischen Aneignung wertvoller Architekturtraditionen" (Kurt Liebknecht 1951) und sein herausragendes Resultat, die Stalinallee, als ein Vorläufer des heutigen Konzepts betrachtet werden können. Aber auch das industrialisierte Bauen ist kein originäres Produkt der DDR, sondern eine mögliche, wenn auch nicht notwendige Fortsetzung einer (nicht nur) Berliner Traditionslinie. Auf der Tagung der Senatsbauverwaltung gab es nicht einmal im Ansatz eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Architektur in Ost-Berlin nach 1945, Ost-Architekten wurden erst gar nicht beteiligt. Ein solches Vorgehen dient nicht dem Zusammenwachsen der Stadt.

Die Argumente der Gegner des Konzepts der Berlinischen Architektur sind oft genauso unzulässig vereinfachend wie die Argumente der Befürworter. Wenn etwa Heinrich Klotz von "Kollhoffs Stadt" spricht, hat er dann wirklich vergessen, wem die Stadt gehört? Wenn er von der Monotonie des Baublocks redet, meint er dann wirklich, daß vor allem die bauliche Form Monotonie gebiert? Wenn wir die propagandistischen Bilder des attackierten Architektentrios Kleihues, Kollhoff, Sawade nüchtern studieren, sehen wir dann - wie Klotz suggeriert - ein "Berlin der Vergangenheit" oder gar "Anklänge an die faschistische Architektur"? Gerade der modische Verweis auf die angebliche Faschismusverwandtschaft zeigt eine erschreckende Unkenntnis, ja Verharmlosung der gesellschaftlichen Verhältnisse der nationalsozialistischen Zeit.

So bleiben auch die Gegner merkwürdig kurzatmig, sie verweisen ebenfalls auf eine Perlenschnur genialer, wenn auch anderer Architekten, auch sie geizen nicht mit Adjektiven - zur Abwertung des Konzepts der "Berlinischen Architektur". Erinnert sei an Begriffe wie "konservativ", "reaktionär", "antiliberal", "latent nationalistisch", "antiamerikanisch", "politisch gefährlich". Bedenklich sind hastige Wertungen, die nicht auf einer Analyse der Verhältnisse beruhen. Der vielfach bejubelte Begriff "Neuteutonia" ist ein Höhepunkt dieser medial wirksamen Verflachung. Die Komplexität eines Karl Scheffler und eines Werner Hegemann scheint heute unerreichbar. Doch halt: es gibt sie noch - etwa in den Schriften von Bruno Flierl und Dieter Hoffmann-Axthelm. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht hier um die Methode der Argumentation, um die Argumente muß weiter gestritten werden.

6.3. Ein Regelwerk für den Städtebau, eine Streitkultur für die Architektur

In Zukunft sollten zwei zu unterscheidende Aufgaben getrennt werden: zum einen das Ringen um die präzisierende Definition von städtebaulichen, rahmensetzenden Regeln, zum anderen der Streit um die architektonische Gestaltung der neuen Bauten in Berlin.

Die künftigen Regeln sollten städtebaulicher und nicht zugleich architektonischer Art sein. Städtebauliche Regeln sind auch und gerade in Berlin heute unverzichtbar. Dazu gehört das Bauen im städtischen Kontext, das Bauen an der Straße, im Block, auf der Parzelle; dazu gehört ein Streit um die Traditionen der europäischen Stadt und die "kritische Rekonstruktion der Stadt"; dazu gehört vor allem ein Streit um die bauliche Dichte, um die erforderliche funktionale, soziale und bauliche Mischung sowie um die ökologischen Erfordernisse. Traufhöhen sind zweifellos ein nicht zu unterschätzender Teil dieses Streites, aber nicht nur oberirdische, sondern auch unterirdische Traufhöhen. Es geht also nicht in erster Linie um ästhetische Konzepte, sondern um das Konzept von Stadt überhaupt, um die nachhaltige Weiterentwicklung der "Stadt als soziale Form". Darauf verweist Dieter Hoffmann-Axthelm auch in "ARCH+" - im offenen Widerspruch zu anderen Autoren in diesem Heft: "Wir müssen uns also erst einmal darüber streiten, wofür die Architektur gebraucht wird." (1994a, S. 13)

Im Zentrum der Diskussion um eine neue Architektur in Berlin müssen vor allem die neuen Bauaufgaben in dieser Stadt stehen: an der Peripherie das städtische, durchmischte Wohnen, im Zentrum von Berlin das funktional gemischte Gebäude, das sich nicht als Solitär versteht. Es geht ja gar nicht um eine Fortsetzung der widersprüchlichen Tradition des Berliner Geschäftshauses, sondern um die Gestaltung einer wieder neuen Bauaufgabe: den Bau eines "gemischtgenutzten Geschäftshauses" mit städtischen Einrichtungen und Wohnungen, eines Bautypus, der flexibel ist für sich verändernde Nutzungsmischungen. Beim Ringen um die architektonische Gestaltung müssen Experiment und Vielfalt möglich sein - im Rahmen der städtebaulichen Regeln. Daß dieses Ringen um Gestaltung in einem gesellschaftlichen Kontext vor sich geht, dessen Mangel an solider, konsensstiftender kultureller Tradition auf seiten der Politik wie der Bauherren durchaus an die von Karl Scheffler geschilderten Zeiten erinnert, zeigt die Größe der Aufgabe. Die Stadtpolitik ist in der Pflicht, auch architektonische Qualität einzufordern - bei allen Schwierigkeiten, Qualität zu definieren. Es geht im übrigen aber nicht nur um Neubau, sondern auch um die Weiterverwendung des Altbaus, um eine Strategie gegen den Abriß. Mit anderen Worten: der Streit um "Berlinische Architektur" muß fruchtbar gewendet werden.